Frühling 2023: Rechte Mitmach-Aktion und blaues Umfragehoch
Was gibt es Neues aus den demokratiefeindlichen Milieus? Im Radar teilen wir zentrale Ergebnisse unseres Langzeit-Monitorings und analysieren die sich abbildenden Trends. Außerdem in den Blick nehmen wir dieses Mal eine orchestrierte Twitter-Kampagne, die versuchte, im Windschatten des Pride Month Aufmerksamkeit für nationalistische Botschaften zu erzeugen. Dass hinter dem #Stolzmonat wenige, aber gut koordinierte Accounts stecken, ließ sich vermuten. Wir bieten nun erste Daten, um diesen Fall digitaler Diskurspiraterie besser zu verstehen. Weiterhin behandeln wir wie immer die neuesten Thementrends im Kommunikationsverhalten demokratiefeindlicher Akteure und zeigen, wer aus diesem Spektrum auf Telegram an Popularität gewinnt oder verliert.
Der Frühling 2023 war geprägt von polarisierenden Debatten zu neuen Regierungsvorhaben wie dem Heizungsgesetz und der EU-Asylrechtsreform. In den Parlamenten, auf den Straßen und im Netz regte sich Widerspruch, der auch durch interne Konflikte in der Ampel-Koalition flankiert wurde. Zugleich waren in der CDU, der größten Oppositionspartei, kleinere Richtungskämpfe zu beobachten, während die AfD ein bisher unerreichtes Umfragehoch erlebte. Bundesweit kommt sie nach neuesten Umfragen auf bis zu 20 Prozent der Wählerstimmen und avancierte damit vorerst zur zweitstärksten politischen Kraft im Land.1 Viele Menschen machen sich deswegen Sorgen, zumal die AfD momentan auch in der Pole-Position bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen steht und die ersten Siege bei dortigen Bürgermeister- und Landratswahlen Rückenwind versprechen.2 Das ist ernst zu nehmen. Dennoch helfen die Schreckensszenarien, die über (digitale) Medien ihre Verbreitung finden, wenig weiter. In der rechten Gegenöffentlichkeit wittert man nicht von ungefähr eine politische Panik, aus der man politisches Kapital schlagen will.
Was bisher geschah: Vom Friedenswinter 2.0 zum blauen Frühling
Noch im Winter waren die Sorgen groß, dass über die Frage nach Krieg und Frieden in der Ukraine ein Band zwischen linken und rechten Akteuren geknüpft würde, das insbesondere der extremen Rechten Brückenschläge in neue Gewässer ermöglichen könnte. Die Idee einer solchen Allianz der Extreme, die im populären Diskurs häufig als »Querfront« bezeichnet wird, konnte aber jenseits der üblichen Verdächtigen aus der rechten Ecke bisher keine Wirkmacht entfalten. Gleichwohl konnten wir im Fokus der vergangenen Ausgabe durchaus eine weitverbreitete Querfrontmentalität feststellen, die für ein gewisses Potential solch einer Allianz spricht.3 Vorerst allerdings, so zeigt sich nur wenige Monate später, sind die Kräfte von Rechtsaußen auf eine Unterstützung von links nicht angewiesen: Sie verfügen mittlerweile über die Hoheit unter den systemkritischen Polen. Auffällig dabei ist, dass man nach den Versuchen mit alternativen Bedrohungserzählungen seit der Pandemie 20204 nun vermehrt ins bewährte Themenfeld der Migrationskritik zurückkehrt. Auch von den Kontroversen um vermeintlich linke, sogenannte woke Positionen scheint man zu profitieren.
Themen wie Gendersprache oder queerpolitische Entwicklungen beschäftigen einen breiten Querschnitt der Bevölkerung,5 so dass sich in den öffentlichen Debatten darüber neue Möglichkeiten auch für rechtsextreme Diskurs- und Raumgewinne bieten. Denn in diesen meist digital und hoch emotional geführten Kontroversen gibt es viele mögliche Aufreger oder gar Skandale, die für mediale Punktgewinne der rechten Wutblase taugen. Gerade Akteure von Rechtsaußen fühlen sich regelrecht unterhalten von den Auseinandersetzungen, deren Fronten keineswegs nur zwischen links und rechts verlaufen, und sind bemüht, damit verbundene Diskurse in ihrem Sinne zuzuspitzen.6 So überrascht es auch nicht, dass rund um die Feierlichkeiten des Pride Month im Juni rechte und rechtsextreme Online-Aktivist*innen eine digitale Mitmachkampagne unter dem Hashtag »Stolzmonat« initiierten, mit der sie durch eine kollektive Zurschaustellung von Nationalstolz die Idee eines queeren Stolzes, wie ihn der Pride Month zum Ausdruck bringen soll, übertrumpfen wollten. Unterstützt wurden sie dabei von der AfD.
Stolz und Vorurteil: Rechte Mitmachkampagne auf Twitter
Dass rechtsextreme Kräfte gerne auch mal an den Mechanismen der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie zu schrauben versuchen, zeigen diverse Beispiele: von #120db7 über #WhiteLivesMatter8 bis zu »Oma-Gate«9. In all diesen Fällen führten kurze Aufreger zu einer cross-medialen Dynamik, die immer dann an Fahrt aufnahm, sobald sie von großen Medienhäusern amplifiziert wurde. Das Playbook hinter dieser Diskurspiraterie: Man versucht ein öffentlich diskutiertes Thema mit eigenen Inhalten zu füllen, wobei eine Armada von hyperaktiven Accounts (Fake oder nicht) einen markanten Hashtag in die Twitter-Charts zu bringen versucht, bis die mediale Öffentlichkeit die künstliche Stimmungsmache nicht mehr ignorieren kann. Im Falle von #Stolzmonat waren es allein vom 25. Mai bis zum 21. Juni rund 850.000 Tweets, die in Umlauf gebracht wurden und dafür sorgten, dass der Hashtag Anfang Juni für fünf Tage in Folge an der Spitze der Twitter-Trends stand. Dies zog unweigerlich das Interesse mancher Journalist*innen auf sich, wenngleich die mediale Verstärkung der Kampagne diesmal vergleichsweise gering ausfiel.10
Was also hat es mit diesem Hashtag genau auf sich? Im Mai griff ein umtriebiger rechtsextremer Youtuber diesen schon vorher in rechten Kreisen existierenden Hashtag auf,11 um ein digitales Gegen-Event zum Pride Month anzuregen, der queerpolitische Anliegen u.a. auf Veranstaltungen und Paraden thematisiert. In dessen Windschatten sollte so ein nationalistisches Raunen hörbar gemacht werden, mit dem man sich über Formen der Antidiskriminierungspolitik mokiert. Für das Branding wurden neben dem Hashtag auch Bildgeneratoren bereitgestellt,12 mit dem Teilnehmer*innen ihre Zugehörigkeit zur Kampagne signalisieren können. Die Inhalte, die letztlich unter dem Hashtag geteilt wurden, waren thematisch und visuell sehr vielfältig, wodurch ein breites Publikum angesprochen wurde. Jenseits des geteilten Nationalismus und der Ablehnung von queerpolitischen Forderungen, die vor allem mit der Politik der Grünen verbunden werden, war allerdings nicht zu erkennen, dass die Kampagne für eine breitere Themensetzung mit programmatischen Inhalten genutzt wurde. Die inhaltliche Leere lässt sich an den Co-Hashtags gut nachvollziehen.
Die Fahne flattert voran: Rechte Vorturner*innen der Kampagne
Es zeigt sich also, dass sich die Botschaft der Kampagne weitestgehend im Hashtag selbst erschöpfte. Er diente als Vehikel, um eine kollektive Identitätsbildung zu fördern und weitere Vernetzungen in Gang zu bringen. Im Vordergrund stand dabei die Zurschaustellung einer nationalen Gesinnung in Opposition zu »zeitgeistigen« Trends, die als weltfremd empfunden werden – und weniger die konkrete Hetze gegen queere Menschen.13 Entsprechend interessieren uns nun an dieser Form des Hashtag-Aktivismus weniger die Inhalte als vielmehr die Frage, wie sich ein solch koordiniertes Nutzer*innenverhalten vollzieht bzw. wie ein Grad der Koordinierung über die Analyse von Twitter-Daten nachgewiesen werden kann. Zu diesem Zwecke gehen wir zum ersten Tweet aus dem Jahr 2023 zurück, der »Stolzmonat« am 25. Mai noch ohne Hashtag trug.14 In diesem Tweet stellte der rechtsextreme Youtuber Shlomo Finkelstein15 die adaptierte Deutschlandfahne mit Regenbogenmuster vor. Sie solle, so Finkelstein, ab dem 1. Juni genutzt werden, um die politischen Gegner*innen durch massenhaftes Flaggezeigen zu ärgern.
Auffällig ist, dass bereits vor Beginn der Kampagne die AfD Wuppertal den Startschuss nicht abwarten konnte,16 wie auch die Tatsache, dass der (nun gelöschte) Account frontum_de eine technische Anleitung für das kollektive Flaggezeigen anbot.17 Außerdem ist kurz nach Beginn der Kampagne nachzuvollziehen, dass rechtsextreme Alternativmedien wie Info-Direkt und Junge Freiheit schnell bereitstanden, diese zu featuren. Das spricht dafür, dass hinter den Kulissen an einem medialen Boost für das Projekt gearbeitet wurde. Nicht zuletzt zeigt sich in diesem Fall wieder mal: Geplante Kampagnen rund um Hashtags gewinnen erst dann richtig an Fahrt, wenn viele Uneingeweihte mitzumachen beginnen und eine Schwarmdynamik entsteht.18 Das Mitmachangebot muss daher so niedrigschwellig wie möglich sein. Zugleich müssen Neulinge schnell belohnt werden mit Likes und Retweets, damit sie eine emotionale Bindung zur Kampagne bekommen und weiter posten. Um dies zu erreichen, tracken erfahrene Aktivist*innen jede Aktivität rund um den Hashtag und retweeten Beiträge so schnell wie möglich. Auch das zeigt sich in unseren Daten.
Flagge zeigen lassen: Die künstliche Amplifikation der Kampagne
Insgesamt haben wir knapp 100 Accounts identifizieren können, die innerhalb von 60 Sekunden mehrfach dieselben Tweets mit #Stolzmonat weitergeleitet haben. Viele von ihnen sind klassische rechte bis rechtsextreme Aggregatoren-Accounts (bspw. Itschi1, LazerusRiva, RocketscienceXX) mit einem Hang zum Trolling. Zugleich lässt sich feststellen, dass 2.307 neue Accounts im Untersuchungszeitraum erstellt wurden, die für 122.380 Tweets, Retweets oder Replies verantwortlich sind, was für eine hohe Anzahl an Sockenpuppen spricht. Einige von diesen Fake-Accounts waren von Beginn an involviert (z.B. KurtDanke, Lump_der_Dritte, Unwokemyheart). Zentral im Netzwerk waren aber auch die Accounts der AfD Aachen und AfD Mayen-Koblenz, deren Twitter-Interaktionen von anderen Accounts fast zeitgleich gespiegelt wurden, was darauf hinweist, dass die jeweiligen Betreiber*innen multiple User*innen-Accounts unterhalten. Während unsere Erkenntnisse für einen hohen Grad an koordiniertem Nutzerverhalten sprechen, konnten wir keine sicheren Hinweise auf bot-ähnliches Retweetverhalten in der gesamten Kampagne feststellen.19
Für einen gewissen Grad an Viralität solcher Hashtag-Kampagnen benötigt es über die Aktivierung des eigenen Dunstkreises hinaus – und neben Reaktionen der angesprochenen Gegenseite – auch eine Resonanz in den herkömmlichen Medien. Im Fall von #Stolzmonat war es sogar ein ausgesprochenes Kampagnenziele, genau das auch zu erreichen. Doch die Erfolge dieses Spill-Over-Versuchs fielen spärlich aus. Nur wenige Medien – darunter der Kölner Stadtanzeiger, das Politikmagazin Monitor und das Online-Portal queer.de – berichteten über die Kampagne. An deren geringen medialen Resonanz änderte sich auch nichts durch den Rapper Fler, der sich auf Twitter darüber echauffierte, dass eine Textzeile aus seinem Lied »Neue Deutsche Welle« für die Kampagne zweckentfremdet wurde.20 Als wichtiger Meilenstein kann hingegen die Verbreitung des Hashtags durch wichtige Führungspersönlichkeiten der AfD angesehen werden. So war einer der wichtigsten Promoter der Kampagne der Co-Vorsitzende des Thüringer Landesverbands, Björn Höcke, der sich direkt am ersten Tag zur Unterstützung der Kampagne bekannte.21
Fehlender Sparringspartner: Vom Misslingen der Provokation
In einem Gespräch zwischen Finkelstein und Höcke wurde durchaus zutreffend angemerkt, dass der Schulterschluss zwischen AfD und ihrem digitalen Vorfeld selten so offen zelebriert wurde wie bei dieser Kampagne.22 Was allerdings ausblieb, war eine größere Reaktion des politischen Gegners, obwohl eine solche mit aller Kraft zu erzeugen versucht wurde. So finden sich unter den 50 am häufigsten erwähnten Accounts viele der SPD, unter deren Posts man den #Stolzmonat platzierte. Jedoch wurde auf diese Provokation kaum eingegangen. Nichtsdestotrotz wurde der #Stolzmonat von rechts als Erfolg gefeiert.23 Auffällig dabei ist, dass viele Teilnehmer*innen das kollektive Posten rund um den Hashtag als eine Art Grassroots-Bewegung lobten, mit der man sich – angestimmt von »Rechts-Twitter« – gegen den politischen Zeitgeist stellen würde. Hierbei scheinen sich nicht wenige an frühere Zeiten des koordinierten Online-Aktivismus zurückerinnert zu haben, als unter der Fahne des rechtsextremen Netzwerks Reconquista Germanica Debatten zur Bundestagswahl gekapert wurden.24
Während allerdings für die frühen »Medienguerilla-Aktionen« einst Handbücher geschrieben wurden, die erklärten, wie eine Minderheit für möglichst viel Aufmerksamkeit sorgen kann, ist das heute gar nicht mehr nötig. Denn die Mechanismen der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie haben mittlerweile viele internalisiert. Auch wäre es zu einfach, von einer rein künstlichen Kampagne, einem Astroturfing, zu sprechen. Denn die Kampagne hat trotz ihrer künstlichen Amplifikation durchaus eine Breitenwirkung gehabt. Diese wurde insbesondere über reichweitenstarke Accounts der AfD hergestellt, die der Kampagne eine gewisse Zertifizierung verliehen. Was ihr allerdings weniger vergönnt war, war die eingerechnete Reaktion des politischen Gegners. Somit bleibt der #Stolzmonat ein politisches Strohfeuer, das aber einen hohen Vernetzungsgrad im relevanten Akteursfeld anzeigt und auch in anderen Kontexten wieder aufflammen könnte. Vor allem aber zeigt der Fall: Twitter bietet sich wieder als Kampagnenplattform an, weil einst gesperrte Accounts wieder aktiv sein können und die Moderation von Inhalten nachgelassen hat.
Wer mit wem kommuniziert: Demokratiefeindliche Netzwerke auf Telegram
Während Twitter wieder stärker von Rechtsaußen genutzt wird, um ein breites Publikum zu adressieren, bleibt Telegram das organisatorische Rückgrat des demokratiefeindlichen Spektrums im digitalen Raum. Die Plattform dient v.a. dem Austausch und lässt durch seine nicht-algorithmisch geordneten Inhalte Rückschlüsse auf Konstellationen und Trends in jenem Spektrum zu. Dafür analysieren wir im Rahmen unseres hauseigenen Monitorings 4.600 Kanäle langfristig auf ihr Kommunikationsverhalten hin.25 Dabei interessiert zunächst einmal, wie die Akteure miteinander verbunden sind. Hierüber gibt unser Dashboard Auskunft, das seit Anfang 2022 deren jeweilige Position im Gesamtnetzwerk ermittelt.26 Grundsätzlich ist hier erkennbar, dass Kanäle mit einer flexiblen Ausrichtung stärkere Zentralitätsgrade haben, aber auch, welche Kanäle besonders viel Ressourcen in ihren digitalen Aktivismus stecken: So etwa verschwörungsideologische Influencer*innen wie Eva Herman (evahermanoffiziell), Ken Jebsen (kenjebsen) und Oliver Janich (oliverjanich), aber auch Alternativmedien wie der österreichische Sender AUF1 (auf1tv) und das Schweizer Portal Uncut News (uncut_news), das der Querdenken-Bewegung nahe steht. Im Vergleich zum letzten Quartal ändert sich die Struktur des Netzwerks jedoch kaum.
Richtet man den Blick auf die nächsthöhere Ebene, stellt sich die Frage, wie die Ideologien, die wir den Akteuren zugeordnet haben,27 miteinander zusammenhängen. Hierzu schauen wir uns die absoluten Zahlen der geteilten Nachrichten an und dokumentieren, welche Kanäle Inhalte von Kanälen mit welcher ideologischer Prägung teilen (Out-Degree) bzw. von diesen geteilt werden (In-Degree). Daraus ergibt sich ein Überblick zum Zusammenhang der verschiedenen Milieus. Auffällig dabei ist, dass Kanäle, die sich dem Verschwörungskult QAnon zuordnen lassen, die größte Binnenhomogenität aufweisen: Zwei Drittel der abgesetzten Nachrichten werden untereinander geteilt. Zugleich werden Nachrichten aus diesem Milieu von anderen nur sehr zurückhaltend weitergeleitet. Zusammengenommen spricht das für eine geringe Anschlussfähigkeit. Mit Blick auf die bilateralen Beziehungen zwischen den Milieus zeichnet sich wiederum ab, dass strategisch agierende Akteursgruppen wie die Neue Rechte prinzipiell weniger Inhalte aus anderen Milieus teilen, wohingegen das weitere verschwörungsideologische Milieu mit allen Gruppen recht rege interagiert.
Sharing is Scaring? Zum nachlassenden Weiterleitungsverhalten
In den vorangegangenen Quartalen fiel uns bereits auf, dass die Motivation, auf Telegram Nachrichten weiterzuleiten, unter den beobachteten Akteuren stetig abnahm. Dieser Trend setzt sich auch im Frühjahr 2023 fort. Grundsätzlich ist das Weiterleiten von Nachrichten eine wichtige Aktivität auf Telegram, um die Reichweite von Inhalten zu erhöhen. Allerdings wird mit einer stets wachsenden Anzahl an Accounts auf der Plattform auch die Aufmerksamkeit für einzelne – durchaus reichweitenstarke – Accounts geringer. So fiel die Anzahl der geteilten Nachrichten auf knapp über 47.000 im aktuellen Dreimonatszeitraum (Anfang März bis Ende Mai) im Vergleich zu rund 79.000 Nachrichten im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Äquivalent lässt sich sagen, dass sich im Vergleich zu Beginn unseres Monitorings im März 2022 die Anzahl der monatlichen geteilten Nachrichten halbiert hat. Dabei handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess, der sich nicht an einzelnen Kanälen festmachen lässt und viele Kanäle ähnlich trifft.28
In einem weiteren Schritt haben wir reichweitenstarke Accounts der jeweiligen Milieus selektiert, um zu sehen, ob die sinkenden absoluten Zahlen mit einem Rückgang bei einigen Kern-Accounts zu tun haben könnten. Jedoch ist der Anteil geteilter Nachrichten bei diesen Akteuren über die letzten 15 Monate stabil geblieben. Auf den alternativen Sender AUF1 etwa entfallen derzeit 1,63 Prozent der geteilten Nachrichten, womit er insgesamt der zentralste Kanal bleibt. Speziell innerhalb der extremen Rechten sind die Freien Sachsen weiterhin tonangebend. Auch Kanäle von Influencern mit Verschwörungshang schneiden gut ab; an ihre Reichweite kommen Kanäle wie der des Identitären Martin Sellner nicht heran, auch wenn sie relevant in ihren Gefilden sind. Auffällig ist zudem, dass AUF1-Inhalte vor einem Jahr noch stark im QAnon-Milieu geteilt wurden, heute hingegen viel mehr in rechtsextremen Kreisen. Allerdings hat gerade dieser Kanal die gleichmäßigste Streuung über die Milieus verteilt. Ganz anders sieht es im rechtsextremen Milieu aus: Genannter Sellner oder die Gruppe Ein Prozent erreichen andere Milieus wie die der Querdenker oder Verschwörungsideolog*innen kaum.
Worüber kommuniziert wird: Themen und ihre Karrieren
Kommen wir nun zu der Frage, worüber die verschiedenen Kanäle eigentlich kommunizieren bzw. welche Thementrends sich abzeichnen. Auch auf Grundlage statistischer Verfahren mit großen Datensätzen ist das nicht immer eindeutig zu bestimmen, da Telegram nicht unbedingt der Ort für ideologische Debatten ist, sondern es den Akteuren unterschiedlicher Ausrichtung v.a. darum geht, sich Gehör zu verschaffen. Es ist also eine Plattform, auf der viel mit Clickbait um Aufmerksamkeit konkurriert wird. Wie schon in den vorherigen Ausgaben festgestellt, führt das zu einer Angleichung, was die Länge, Ansprache und Struktur von Postings betrifft. Trotzdem ist es wichtig, eventuelle Kommunikationsveränderungen nachzuvollziehen, um neue Agenden im untersuchten Spektrum frühzeitig zu erkennen. Um die 12 Millionen Nachrichten der letzten 15 Monate grundlegend zu ordnen, nutzen wir das Topic-Modelling-Verfahren der latenten Dirichlet-Verteilungen (LDA).29 Dieses errechnete 120 Themen, die dann mit Labels versehen wurden. Das Themenmodell dient der Übersicht und hilft zu verstehen, wo die thematischen Schwerpunkte der verschiedenen Milieus liegen.
Die Ergebnisse zeigen, dass Themen der Mobilisierung, Dokumentation und Repression von Protesten am präsentesten sind, aber auch Aufrufe zur Unterstützung insbesondere des Online-Aktivismus. Dies unterstreicht nochmal die zentrale Rolle Telegrams als Mobilisierungsmaschine.30 Neue Themen, die sich im letzten Quartal heraus kristallisierten, sind die Klimaproteste, die insbesondere in rechtsextremen Kreisen diskutiert werden, sowie Verschwörungstheorien rund um Biolabore in der Ukraine, die in pro-russischen Propaganda- und QAnon-Kanälen auf Interesse stießen. Außerdem zeigt unser Modell nun eine größere Schwerpunktsetzung auf den Krieg in der Ukraine und damit einhergehend die deutsche Politik in Bezug auf den Krieg und das Verhältnis zu Russland. Auch kommen wieder stärker Trump-bezogene Themen und Verschwörungstheorien auf, was mit der erneuten Kandidatur des ehemaligen US-Präsidenten sowie dem juristischen Vorgehen gegen ihn zu tun haben dürfte. Auffällig ist zudem die Fokussierung auf das Thema Migration durch neurechte Akteure, die als Vordenker des Rechtsextremismus gelten.
Die Spitze des Eisbergs: Metrische Trends im Frühling 2023
Schließlich interessiert uns noch, was sich über die Entwicklung der Popularität der Akteure im letzten Quartal aussagen lässt. Hier interessiert die Entwicklung bei den Abonnent*innen der Kanäle, die wir nach den von uns definierten ideologischen Sparten unterteilen. Wie im vorherigen Quartal sehen wir dabei, dass bei den großen Kanälen nur bei pro-russischen und esoterischen Akteuren noch Zuwächse zu verzeichnen sind. Ferner bestätigt sich, wie im vergangenen Bericht vermutet, dass der vorherige Anstieg bei Reichsbürger-Kanälen nur eine Episode war, die mit den medienwirksamen Verhaftungen im letzten Dezember zu tun hat.31 Bei den kleinen und mittelgroßen Kanälen mit weniger als 20.000 Abonnent*innen sehen wir wiederum den deutlichsten Anstieg im neurechten Lager. Auch hier ließe sich ein Zusammenhang zu staatlich-repressiven Aktionen herstellen: Im April gab nämlich der Verfassungsschutz bekannt, dass er zwei Aushängeschilder der Neuen Rechten als gesichert extremistisch einstuft.32 Ein näherer Blick verrät, dass es vor allem Kanäle mit visuellen Komponenten sowie offenen Kommentarspalten sind, die an Reichweite gewinnen.
Schauen wir eine Ebene tiefer, fällt auf, dass es insbesondere Kanäle mit verschwörungsideologischem Profil sind, die an Zuwachs gewinnen. Diese sind nicht an bestimmte Organisationen gebunden, sondern existieren v.a. im Telegram-Kosmos. Was sie mit anderen aufstrebenden Kanälen verbindet, ist der hohe Grad an original content, also selbst kreierten Inhalten. Scheinbar verlieren die meisten Kanäle, die vorwiegend Nachrichten anderer Kanäle aggregieren oder auf andere Seiten verlinken, an Bedeutung. Insgesamt sind die Kanäle mit den größten Verlusten ideologisch sehr unterschiedlich. So verloren neben Querdenker-Gruppen auch bekannte Akteure wie Pegida-Gründer Lutz Bachmann deutlich. Dasselbe gilt für Gruppen rund um die Trucker-Konvois, deren Aktivitäten nach dem Abklingen der internationalen Proteste zum Erliegen kamen. In absoluten Zahlen gibt es im Vergleich zum letzten Quartal wenig Veränderung. Vielmehr stagnierten die 14 reichweitenstärksten Kanäle oder verloren gar Abonnent*innen, was den Sättigungseffekt auf Telegram ein weiteres Mal unterstreicht.
Treibeis auf Telegram: Viral gehende Posts
Abschließend schauen wir auf populäre Posts, anhand derer sich granulare Trends abbilden lassen. Interessant ist, dass viele dieser Inhalte einen Bezug zur Pandemie haben, obwohl auf der aggregierten Ebene das Interesse an Corona-Themen nachlässt. Milieuübergreifend werden dabei Pandemiethemen mit einer schäumenden Elitenkritik verbunden. Eine große Reichweite erhalten auch weiterhin Posts aus QAnon-Kanälen, die das Ende des Westens heraufbeschwören. Am populärsten war allerdings eine Nachricht des Impfkritikers und Homöopathen Rolf Kron, der vor der neuen Lebensmittel-Frischhaltemethode Apeel warnt; sie sei schädlich und werde von Bill Gates finanziert. Sie reiht sich ein in eine Welle an Kritiken der Lebensmittelindustrie. Überraschend ist, dass wenig tagesaktuelle Informationen vorne dabei sind. So war trotz der hitzigen Debatte um das Heizungsgesetz das Thema nur in Prepperkreisen wirklich dynamisch. In absoluten Zahlen hat wiederholt AUF1 die größten Reichweiten der Top-Drei-Posts erzielt, wenngleich der Top-Post zum Thema Impfschäden nur halb so viel Reichweite hatte wie der Top-Post aus dem letzten Quartal. Insgesamt scheint das Teilen von Posts nachzulassen.
Um die Überraschungen unter den Top-Posts herauszufiltern, haben wir zudem die Reichweite von Nachrichten mit den Abonnent*innen des betreffenden Kanals ins Verhältnis gesetzt.32 Den größten Erfolg landete dabei ein kleiner pro-russischer Propaganda-Kanal (600 Abonnent*innen) mit einem kritischen Post zu einer Sendung von Markus Lanz. Ein weiterer Post, der überraschend viel Reichweite bekam, wurde von der Identitären Bewegung Chemnitz abgesetzt. Dieser skandalisierte eine polizeiliche Maßnahme gegen eines ihrer Mitglieder, durch die sich das System als totalitär und antidemokratisch entlarve. Eine dritte erwähnenswerte Nachricht stammt von dem Verschwörungskanal initiative_demokratie, der eine große Verschwörung der angeblich gleichgeschalteten Medien thematisiert und Aufarbeitung verspricht. Obwohl die Nachrichten nicht repräsentativ sind, zeigt sich doch, dass bestimmte Inhalte ein stärkeres Potenzial haben, viral zu gehen: Das sind insbesondere konkrete Ausschnitte aus den Medien, die aus dem Kontext gerissen werden, die Skandalisierung von Repressionen, die auch über das eigene Lager hinaus rezipiert werden, und nicht zuletzt Nachrichten, die eine vermeintliche Verschwörung aufdecken.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Frühling 2023: Rechte Mitmach-Aktion und blaues Umfragehoch«, in: Machine Against the Rage, Nr. 3, Sommer 2023, DOI: 10.58668/matr/03.1.
Verantwortlich: Hendrik Bitzmann, Maik Fielitz, Harald Sick, Holger Marcks.
Für tiefere Einblicke in die Netzwerk- und Themenentwicklungen kann unser Prototyp von D-REX+ besucht werden, unser Datenthesaurus zu Rechtsextremismus & Co. im Netz.
- Siehe z.B. »Umfragetrend setzt sich fort: AfD überholt SPD – und ist nun zweitstärkste Kraft«, auf: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 13. Juni 2023, online hier.
- Siehe dazu »Stichwahl in Sachsen-Anhalt: Erst AfD Landrat, jetzt ein AfD-Bürgermeister«, auf: ZDF, 3. Juli 2023, online hier.
- Siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Der (Alb-)Traum von der Querfront. Zur Idee einer Allianz der Extreme in digitalen Zeiten«, in: Machine Against the Rage, Nr. 2 (Frühling 2023), online hier.
- Siehe dazu Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Vom Volkstod zum Blackout? Rechtsextreme Bedrohungsnarrative im Wandel«, in: Machine Against the Rage, Nr. 0 (Herbst 2022), online hier.
- Vgl. dazu etwa »Umfragen in der Übersicht: Gendergerechte Sprache«, auf: infratest dimap, 2022, online hier.
- Zur Einordnung siehe grundlegend Michaela Köttig, Renate Bitzan & Andrea Petö (Hg.), Gender and Far Right Politics in Europe (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2016).
- Siehe Curd Knüpfer, Matthias Hoffmann & Vadim Voskresenskii, »Hijacking MeToo. Transnational Dynamics and Networked Frame Contestation on the Far Right in the Case of the ›120 Decibels‹ Campaign«, in: Information, Communication & Society, Nr. 7, Jg. 25 (2022), S. 1010–1028.
- Siehe Sarah Viets, »Meet White Lives Matter. The Racist Response to the Black Lives Matter Movement«, auf: Southern Poverty Law Center, 18. März 2016, online hier.
- Siehe Steven Geyer, »Letzte Worte zur ›Umweltsau‹: Fünf Lehren aus ›Oma-Gate‹«, auf: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 30. Dez. 2019, online hier.
- Wie im Laufe des Beitrags noch zu behandeln, haben verschiedene Portale über die Kampagne aufgeklärt. Dafür, dass diese Berichterstattung zu einer gewissen Verstärkung des #Stolzmonat beigetragen hat, ließen sich allerdings erstmal keine Anhaltspunkte finden.
- Bereits in den Jahren 2021 und 2022 positionierten sich vereinzelt rechte bis rechtsextreme Twitter-Accounts unter #Stolzmonat in Kontrast zum Pride Month. Am 3. Juni 2021 wurde auch zum ersten Mal die für die Kampagne charakteristische Deutschlandfahne im Regenbogenmuster von der Jungen Alternative Sachsen-Anhalt gepostet – allerdings ohne den dazugehörigen Hashtag. Siehe dazu auch Sebastian Scheffel, »›Stolzmonat‹ statt Pride Month. Wie Rechte den Kampf für Gleichberechtigung kapern wollen«, auf: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 23. Juni 2023, online hier.
- Eigens für die Kampagne wurden Webseiten geschaffen, auf denen ein Template dazu einlud, das eigene Twitter-Profilbild mit der modifizierten Deutschlandfahne hinterlegen zu lassen. Die Kombination sollte dann online gestellt werden, um zu kennzeichnen, dass man sich der Kampagne zugehörig fühlt. Generell schließen solche Seiten an Meme-Generatoren an, die Menschen mit rudimentären technischen Kenntnissen die Möglichkeit geben, sich an der Verbreitung von Bildern zu beteiligen.
- Die Kampagne wurde bewusst so aufgezogen, dass ein positive Referenz zur Nation als Alternative zur Ideologie vertreten werden sollte, die man hinter dem Pride Month am Wirken sieht. Der Hinweis der Organisatoren darauf, dass sich kaum Hass-Postings gegen minoritäre Gruppen unter dem Hashtag finden lassen, deutet darauf hin, dass hier bewusst auf abwertende Kommentare verzichtet wurde; siehe Shlomo Finkelstein, »Der Stolzmonat im Rückspiegel«, auf: Krautzone, 6. Juli 2023, online hier.
- @slomo96 | 25. Mai 2023 | 16:51.
- Zur Person siehe Samira Alshater, »›Shlomo Finkelstein‹ – Menschenverachtung als Witz verpackt«, auf: Belltower News, 28. Jan. 2022, online hier.
- @AfDRatWuppertal | 25. Mai 2023 | 11:40.
- Der erwähnte Account bot anderen Twitter-Nutzer*innen an, die Profilbilder unter einen Post zu senden und sie dann modifiziert, also vor dem Hintergrund der abgewandelten Deutschlandfahne, zurückzusenden. Von dieser Option machten viele Menschen Gebrauch. Der später veröffentlichte Bildgenerator automatisierte diese Arbeit dann (siehe Fn. 12).
- Siehe Maik Fielitz & Daniel Staemmler, »Hashtags, Tweets, Protest? Varianten des Digitalen Aktivismus«, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Nr. 2, Jg. 33 (2020), S. 425–441.
- Hierzu haben wir untersucht, ob Twitter-Accounts mehrfach dieselben Nachrichten in einem Zeitfenster von einer Sekunde oder weniger retweeten, was auf Bots oder bot-ähnliches Verhalten hinweisen würde. Das war in unserem Sample nicht der Fall bzw. nur maximal zweimal, was eher auf Zufall hindeutet. Zur Vertiefung der Debatte über die Identifikation von Bots siehe Timothy Graham u.a., »Like a Virus. The Coordinated Spread of Coronavirus Disinformation«, Bericht des Centre for Responsible Technology, Juni 2020, online abrufbar hier.
- Siehe Tobias Mayer, »AfD nutzt seinen Songtext: Rapper Fler distanziert sich von rechtspopulistischen ›Spinnern‹«, in: Tagesspiegel, 26. Mai 2023, online hier.
- @BjoernHoecke | 01. Juni 2023 | 10:40.
- Siehe @KasperKast X HonigWabe, »HW#205 mit Björn Höcke und dem Schattenmacher«, auf: YouTube, 2. Juli 2023, insbes. ab: 42:20, online hier.
- Siehe z.B. Clownswelt, »Ein Erfolg. #Stolzmonat«, auf: YouTube, 5. Juni 2023, online hier.
- Siehe Patrick Gensing, »Rechte Trollfabrik: Infokrieg mit allen Mitteln«, auf: Tagesschau, 13. Feb. 2018, online hier.
- Für eine bessere Performance in der Anzeige wird im Folgenden nur eine Auswahl im Dashboard angezeigt.
- Für weitere Informationen siehe das allgemeine Dashboard.
- Siehe dazu den methodischen Annex dieser Ausgabe.
- Ein Teil der Kommunikation könnte sich theoretisch in andere Kanäle verschoben haben, die noch nicht im Monitoring sind. Allerdings wird dieses durchgehend um die wichtigsten Kanäle erweitert, weshalb tatsächlich von einem allgemeinen Rückgang des Weiterleitungsverhaltens ausgegangen werden kann.
- Zum Verständnis dieses text-statistischen Verfahrens und der Generierung von Themen siehe den methodischen Annex.
- Siehe dazu Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Pablo Jost, »Die Kanalisation des Protests. Demokratiefeindliche Mobilisierung via Telegram«, in: Machine Against the Rage, Nr. 1, Winter 2023, online hier.
- Siehe Florian Flade u.a., »Razzien in rechter Szene. 19 mutmaßliche Reichsbürger bereits in Untersuchungshaft«, in: Süddeutsche Zeitung, 7. Dez. 2022, online hier.
- »Bundesamt für Verfassungsschutz stuft ›Institut für Staatspolitik‹ (IfS) und ›Ein Prozent e.V.‹ als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen ein«, auf: Bundesamt für Verfassungsschutz, 26. Apr. 2023, online hier.
- In anderen Kontexten (wie bspw. dem Meta-eigenen Tool Crowdtangle) würde man von einem Overperforming der Nachrichten sprechen.