Prinzip der böswilligen Interpretation: Empörung als moralisches Kapital im digitalen Lagerkampf
Die sozialen Medien sind berüchtigt für ihre Empörungswellen. Die damit einhergehenden Vorwürfe mögen zwar inhaltlich stets anderer Art sein. Gemein ist ihnen aber, dass es dabei immer um die Interpretation von etwas Gesagtem geht – und dass mindestens eine Akteursgruppe dieses als moralische Entgleisung, als Affront oder gar Skandal empfindet. Nicht selten, insbesondere auf Twitter, wirkt diese Aufregung über einzelne Aussagen geradezu gewollt: als wolle man sich unbedingt über jemanden Bestimmtes empören. Was aber sind die kognitiven und emotionalen Treiber solcher Shitstorms, in denen Wut und Hass aufschäumen? Das klären wir in unserer Blitzanalyse anhand zweier Beispiele mit dem Philosophen Philipp Huebl.
Eigentlich müssten die zwei Geschichten schnell erzählt sein: Eine deutsch-türkische Lehrerin klagt über die Angst, die Migrant*innen in Deutschland vor rechtsextremen Einflüssen in der Polizei hätten, und der Bürgermeister der deutschen Hauptstadt sendet Fest- und Feiertagsgrüße an die Bevölkerung. So weit, so unspektakulär. Unter anderen Umständen mag es das schon gewesen sein. Nicht aber in Zeiten von Twitter, wo selbst harmlose Aussagen regelmäßig viele Gemüter erhitzen. Denn hier gibt es – auch wegen des technischen Designs der Plattform – häufig Interaktions- und Schwarmdynamiken, die sich in Empörungswellen äußern.1 Dass diese Wellen keiner ideologischen Richtung vorbehalten sind, sondern vielmehr ein generelles Muster des Gruppenverhaltens im digitalen Kontext darstellen, legen auch jene beiden Geschichten nahe, in denen die jeweilige Empörung aus unterschiedlichen Lagern kam. Konkret handeln sie von Bahar Aslan, einer (ehemaligen) Dozentin an der Gelsenkirchener Polizeihochschule, und von Kai Wegner, dem (regierenden) Bürgermeister von Berlin. Beides sind Fälle, in denen Aussagen ohne Wohlwollen gelesen wurden – und veritable Shitstorms zur Folge hatten. Was ist passiert?
An den Pranger: Die Fälle Aslan und Wegner
Ende Mai postete die Berliner Senatskanzlei im Namen Wegners einen Pfingstgruß auf Twitter.2 In diesem wünschte der CDU-Politiker allen »christlichen Bürgerinnen und Bürgern« – also jenen, für die Pfingsten eine religiöse Bedeutung hat – ein gesegnetes Fest. Zusätzlich wünschte er »uns allen und unseren Gästen« erholsame Tage. Immerhin handelt es sich dabei um Feiertage für alle Berliner*innen, ob christlich oder nicht-christlich, und gibt es in der Hauptstadt, insbesondere über solche Feiertage, viele Tourist*innen. Wohlwollend gelesen also ein aufmerksames Grußwort, das Christ*innen ebenso anspricht wie Andersgläubige und säkulare Menschen, Ortsansässige ebenso wie Besucher*innen.3 Und doch wurde der Gruß vielfach so interpretiert, als meine er mit »Gästen« Migrant*innen, die in Berlin leben, aber keine vollwertigen Bürger*innen, also Fremde, seien. Während für manche diese Botschaft eindeutig war, sahen andere darin mindestens ein bewusstes Spiel mit Mehrdeutigkeiten. In beiden Fällen handelt es sich um Interpretationen, die dem Sender eine böse Absicht unterstellen, die aus den Worten selbst gar nicht hervorgeht.
Ein ähnlicher Sachverhalt liegt auch im Fall Aslan vor. Anlass der Empörung war hier ein Tweet der Dozentin, in dem diese behauptete, viele Menschen im Land hätten bei Polizeikontrollen Angst wegen des »ganzen braunen Drecks innerhalb der Sicherheitsbehörden«.4 Semantisch genau genommen, sagt der Satz lediglich aus, dass es etwa bei der Polizei eine unbestimmte Teilmenge an Rechtsextremist*innen gäbe, vor denen sich manche generell fürchten müssten. Wohlwollend gelesen eine Botschaft, die für die Polizei gewiss nicht schmeichelhaft ist, aber deren Beamt*innen nicht pauschal verunglimpft.5 Und doch wurde die Aussage vielfach so interpretiert, als würde sie die gesamte Polizei des Rechtsextremismus bezichtigen. Auch hier schwanken die Auslegungen zwischen dem Befund, dass es eindeutig so gemeint sei, und der Annahme, dass es bewusst uneindeutig formuliert wurde, um diesen Gedanken zumindest zu triggern. Beide Interpretationen unterstellen damit ebenso der Senderin eine böse Absicht, obwohl es doch geradezu als abwegig gelten kann, dass jemand, der an einer Polizeihochschule unterrichtet, quasi die ganze Polizei (rund 270.000 Polizist*innen) als rechtsextrem einstuft.
Wie der Journalist Julius Betschka bereits feststellte, haben beide Erregungsdynamiken mehr miteinander gemeinsam, als der Antagonismus ihrer Träger*innen vermuten ließe: »das bewusste Kreieren von Empörung auf (mindestens) verzerrter Faktengrundlage«, aber auch das Lancieren von Forderungen nach personellen Konsequenzen für die Sender*innen.6 Tatsächlich spiegelt sich darin der Gegenvorwurf der Verteidiger*innen von sowohl Wegner als auch Aslan: Sie sehen in den betreffenden Kommunikaten eine unschuldige Aussage bzw. legitime Kritik, die vom gegnerischen Lager gezielt uminterpretiert wurde, um gegen missliebige Personen vorgehen zu können. Mit dem Unterschied allerdings, dass Aslan tatsächlich schwerwiegende Konsequenzen erfuhr: Ihr wurde der Lehrauftrag entzogen, während sich für Wegner die Wogen beruhigt haben.7 Streng analytisch betrachtet, bleibt es aber ein kniffliges Puzzle, inwiefern man hier wirklich von einem bewussten oder gar strategischen Missverstehen sprechen kann. Nicht zuletzt auch deswegen, weil dies selbst ein moralisches Urteil darstellt, das eine böse Absicht unterstellt.
The Blame Game: Moralische Verurteilungen als tribalistische Praxis
Die beiden Fälle sind beispielhaft für viele kleinteilige Kontroversen, wie sie im digitalen Raum – als Teil größerer Lagerkämpfe – ständig über die Auslegung von etwas Gesagtem geführt werden. Charakteristisch für sie ist, dass das Prinzip der wohlwollenden Interpretation (Principle of Charity) keine Anwendung findet: Kommunikate des Gegners werden maximal unvorteilhaft gelesen, ja, es wird sogar eine böse Absicht unterstellt. Zugleich ist die Erregungsdynamik eine mehrstufige bzw. wechselseitige. Denn die moralische Verurteilung des betreffenden Kommunikats wird sodann auch von der Gegenseite als unmoralisch verurteilt: Es handele sich um eine böswillige Lesart, die der Inszenierung von Empörung diene. Und letztere Verurteilungen beinhalten wiederum selbst Kommunikate, die als Bestätigung der negativen Absicht hinter dem ursprünglichen Kommunikat interpretiert werden. Auf diese Weise entsteht ein selbstreferentielles Kommunikationssystem: die Dinge schaukeln sich in gegenseitiger Empörung hoch. Um abschließend diskutieren zu können, wie digitale Strukturen dieses Vorwurfs-Pingpong prägen, haben wir Philipp Huebl gefragt, welche kognitiven und emotionalen Mechanismen diesen Gruppenprozessen zugrunde liegen.
Philipp Huebl ist promovierter Philosoph und derzeit Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin. Zuvor lehrte er als Juniorprofessor an der Universität Stuttgart. Unter anderem ist er Autor der Bücher Die aufgeregte Gesellschaft (2019), Bullshit-Resistenz (2018) und Der Untergrund des Denkens (2015). Moralpsychologische und sprachphilosophische Probleme stehen im Zentrum seiner Arbeit. (Bild: Juliane Marie Schreiber)
Absichtliches Missverstehen – gibt es das? Inwiefern kann hier von böswilligen Interpretationen die Rede sein?
Bei den Fällen hat man den Eindruck, dass die jeweilige Aussage absichtlich falsch gelesen wurde, um sich künstlich zu empören und so Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aber grundsätzlich hat man es da mit einem Spektrum zu tun. Und auf diesem gibt es alles. Darunter sind selbstverständlich auch Leute, die sich sozusagen aufrichtig empören. Wir wissen jedoch auch, dass Empörung immer auch zur Selbstdarstellung verwendet wird. Wenn wir uns über angeblich schlimme Dinge empören, können wir damit indirekt ausdrücken, wie sensibel wir sind und uns dadurch als moralisch überlegen inszenieren. Das findet man in allen politischen Lagern, wobei die Gegenstände der Aufregung jeweils andere sind. Grundsätzlich gibt es jedenfalls eine Tendenz zur moralischen Selbstdarstellung, und manchmal ist die damit verbundene Empörung ganz absichtlich, in anderen Fällen aber nur halb-absichtlich oder tatsächlich aufrichtig. So genau lässt sich das im Einzelfall natürlich nicht sagen, weil wir nicht in die Köpfe der Leute gucken können. Aber tendenziell gilt: Wenn man schon bei kleinen Normverletzungen, etwa wenn in einem Tweet ein paar vermeintlich falsche Worte gefallen sind, nicht mal in Betracht ziehen kann, dass es sich auch anders lesen lässt, dann ist man definitiv nicht wohlwollend gegenüber dem Sender der Aussage. Das mag nicht immer vorsätzlich sein, ist aber insofern unfair, als man bei der Interpretation von Vornherein das Schlechteste vom Sender annimmt.
Böse Absichten – lassen die sich feststellen? Wie kann man sie behaupten, ohne selbst böswillig zu interpretieren?
Es ist ein grundlegendes Problem, dass man die Absicht hinter etwas Gesagtem nicht mit Sicherheit feststellen kann. Aber es gibt Hinweise, die auf sie schließen lassen. Hier lohnt ein Blick ins Strafrecht. Die Frage der Absicht ist wichtig für das Strafmaß, wobei Richter Abstufungen kennen: zum einen Vorsatz, wo jemand etwas bewusst plant und verwirklicht; zum anderen indirekter Vorsatz, wo jemand etwas billigend in Kauf nimmt. Übertragen auf unsere Beispiele würde indirekter Vorsatz dann vorliegen, wenn jemand etwas sagt und es ihm gleichgültig ist, ob er sehr wahrscheinlich falsch verstanden wird. Eine Stufe darunter liegt die Fahrlässigkeit: Jemand ist einfach unachtsam in der Wortwahl. Doch nur die Angeklagten selbst kennen ihre wahren Absichten – und die gestehen meist nicht, vorsätzlich gehandelt zu haben. Umgekehrt heißt Kommunikation also immer, anderen Menschen von außen Wortbedeutungen und Absichten zuzuschreiben – und damit kann man natürlich auch falsch liegen. Bei Gericht hat man zumindest eine Einzelfallprüfung, wo sorgfältig abgewogen wird. Im Politischen findet das nicht statt; da sind affektive Unterstellungen Alltag. Gewiss, gerade populistische Politiker setzen strategisch Dogwhistling ein, drücken sich also absichtlich mehrdeutig aus. Die eigenen Leute hören dann den Oberton und verstehen die Botschaft; doch sobald vom gegnerischen Lager ein Vorwurf kommt, stellt man sich als Opfer dar. Im Einzelfall lässt sich kaum sagen, ob das wirklich Absicht war. Formal steht da womöglich bloß eine neutrale Aussage. Wenn da jemand die Absicht zu einer unterschwelligen Botschaft herausliest, hat das mehr mit der eigenen Identität zu tun – und mit dem Bild, das man vom Sender hat.
Identitätsstützendes Denken – ist das der Punkt? Was verleitet Empfänger*innen unbewusst zu einer böswilligen Interpretation?
Der Normalfall dürfte sein, dass sich Leute affektiv empören und Überprüfungsfilter versagen. Es kommt dabei zu Denkfehlern, durch die andere Interpretationen ausgeschlossen sind – und auch zum Kontextzusammenbruch: Man sieht nur die Äußerung, aber nicht den Zusammenhang und das Vorwissen, mit dem sie getätigt wurde. War der Satz ein Witz, ein Zitat, eine Pointe oder vielleicht einfach nur inhaltlich unterbestimmt? Diese Möglichkeiten werden ignoriert und so fallen viele auf ihre eigenen Vorurteile herein, die sie bestätigt sehen wollen. Grundlegend dafür ist eine moralische Identität, die wir schützen wollen. Und da sie eng mit einer Gruppenidentität verknüpft ist, betrachtet man die moralisch-politische Gegengruppe automatisch nicht wohlwollend. Dabei werden die Einstellungen von Mitgliedern einer Gegengruppe häufig als extremer eingeschätzt, als sie tatsächlich sind. Man schafft sich so moralische Klarheit, um sich komplexen Abwägungsfragen zu entziehen. In diese Form der Ambiguitätsintoleranz spielt zudem ein Konformitätsdruck hinein. Menschen haben nämlich den Wunsch nach Anerkennung, und in den sozialen Medien erhalten vor allem Äußerungen Aufmerksamkeit, die moralisch aufgeladen sind, was oft zu einem emotionalen Wettrüsten mit immer höheren Empörungsstandards führt. Nur indem man lautstark in die Verurteilung einstimmt, kann man sichtbar zeigen, zum richtigen moralischen Stamm zu gehören. Stimmen, die eine vermittelnde Position einnehmen, haben es bei diesem digitalen Tribalismus schwer. Wer keinen Ärger mit der eigenen Gruppe will, beteiligt sich besser an der Vereindeutigung.
Principle of Clarity: Das Problem der Vereindeutigung digitaler Diskurse
In politischen Diskursen war das principle of charity noch nie der Standard. Wo Ideologien aufeinanderprallen und um Macht konkurriert wird, ist wenig Raum für Wohlwollen. Zwar ist es im Einzelfall kaum nachzuweisen, welche Absicht ein Akteur mit der Interpretation von etwas Gesagtem verfolgt; dass es aber immer auch gezielte Versuche gibt, dem Gegner das Wort im Mund zu verdrehen, dürfte kaum jemand bezweifeln. Auch tribalistische Momente sind nicht völlig neu. Aspekte, wie wir sie etwa aus der Auseinandersetzung mit sogenannten Echokammern kennen, werden schon lange diskutiert.8 Im Kern geht es dabei darum, dass Mitglieder einer Gruppe stets eine starke Hypothese haben, wo die eigene und eine andere Gruppe moralisch zu verorten sind. Gegnerische Gruppen kommen dabei schlechter weg, als es ihren tatsächlichen Einstellungen entspricht.9 Im sozialen Alltag lassen sich solche Diskrepanzen immerhin noch abbauen. Denn im Direktkontakt wird dem sonst nur imaginierten Andersdenkenden dann doch mehr Verständnis entgegengebracht, das Vorurteil ein Stück weit korrigiert.10 Hier hat das Principle of Charity durchaus Wirkmacht.11
Dieses korrektive Potential wird durch die Digitalisierung beschnitten. Zwar kommen wir nun, in den sozialen Medien, mehr in Berührung mit Andersdenkenden. Doch anders als im »echten Leben« – im Gespräch mit Arbeitskolleg*innen oder Nachbar*innen – werden dabei Vorurteile nicht abgebaut, sondern bestätigt.12 Der Gegenüber ist da keine konkrete, nahbare Person, sondern ein Abziehbild der Gegnervorstellung, dem man entfremdet bleibt. Es gibt in dieser Beziehungsform kein unmittelbares Bedürfnis, Spannungen abzubauen, um das soziale Miteinander zu erleichtern. Stattdessen überwiegt der Impuls, ein Signal an die eigene Gruppe zu senden, die bei diesen Interaktionen immer auch zusieht und als Zuchtmeisterin fungiert. Denn was dabei als opportune Lesart gilt, wird in den jeweiligen Debatten von Influencer*innen vorgegeben, für die Empörung wichtiges Kapital zur Aufmerksamkeitsbeschaffung ist. Vom Schwarm oft genug kolportiert, gerinnt sie dann zur fixen Wahrheit des moralischen Stammes,13 deren Infragestellung als Bedrohung der eigenen Identität empfunden wird. Abweichungen werden entsprechend sanktioniert.
Es ist diese Dynamik, die der Polarisierung im digitalen Kontext eine neue Qualität verleiht. Es geht nun nicht mehr einfach um konträre Haltungen zu bestimmten Fragen, die in einer Demokratie sogar produktiv sein können. Vielmehr wird durch das Moral Grandstanding die Kritik an einer anderen Haltung schnell bis zur Dämonisierung übersteigert.14 Im Ergebnis will man mit dem Gegner dann nicht mehr zusammen leben, arbeiten oder auch nur reden.15 Die Entfremdung in den digitalen Beziehungen überträgt sich so auch auf die analogen. Eine politische Debattenkultur, die sich am Prinzip der wohlwollenden Interpretation orientiert, wäre daher gerade im Digitalen nötiger denn je. Insbesondere wäre der Tendenz zur dichotomen Vereindeutigung – dem Principle of Clarity sozusagen – entgegenzuwirken. Dafür bräuchte es Akteure, die dem Konformitätsdruck der eigenen Milieus nicht erliegen und Kritik daran üben, wenn Aussagen des politischen Gegners mit böswilligen Interpretationen belegt werden.16 Allerdings darf bezweifelt werden, dass dies ohne Reformen des Designs digitaler Räume realistisch ist. Die emotionalen Dynamiken und kollektiven Zwänge sind auch und gerade durch die digitalen Strukturen evoziert.17
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Philipp Huebl, »Prinzip der böswilligen Interpretation. Empörung als moralisches Kapital im digitalen Lagerkampf«, in: Machine Against the Rage, Nr. 3, Sommer 2023, DOI: 10.58668/matr/03.3.
Verantwortlich: Holger Marcks, Maik Fielitz, Hendrik Bitzmann, Harald Sick.
- Im Gegensatz zu etwa Facebook, wo viele individuelle Nutzer*innen hauptsächlich mit einem Netzwerk von Freund*innen und Bekannten interagieren, für die die eigenen Posts einsehbar sind, funktioniert Twitter wesentlich entgrenzter. Es ist weniger soziales Netzwerk als soziales Medium, insofern man dort viel mehr Unbekannten folgt, die eigenen Tweets erstmal für alle einsehbar sind und durch Kommentare oder Retweets vielen weiteren Unbekannten leicht auf den Schirm gebracht werden können. Es handelt sich also um ein anderes Niveau an Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Milieus ständig miteinander interagieren – und das mit einem hohen Maß an Spontanaktivität, die affektives Verhalten begünstigt, auch und gerade durch die Kontextarmut, die die kurzen Tweet-Formate mit sich bringen. Zugleich zieht die Plattform aufgrund ihres öffentlichen Charakters viele Nutzer*innen an mit Geltungsanspruch oder auch Sendungsbewusstsein an, die sich eher in etwas hineinsteigern, als Fehler öffentlich zuzugeben.
- Siehe @RegBerlin | 28. Mai 2023 | 9:00.
- Zudem wurde Dank auch an jene ausgesprochen, die während der Feiertage arbeiten und damit die Stadt am Laufen halten.
- Siehe @BaharAslan_ | 20. Mai 2023 | 13:20.
- Gleichwohl ist mit der Formulierung vom »braunen Dreck« durchaus eine Wortwahl gegeben, deren dehumanisierendes Moment nicht so einfach beiseite gewischt werden kann, auch wenn sie als Synonym für Nazis geläufig ist.
- Siehe Julius Betschka, »Nach Debatte um Pfingstgruß in Berlin: Was Bahar Aslan und Kai Wegner eint«, in: Tagesspiegel, 30. Mai 2023, online hier.
- Aslan wurde infolge des Tweets der Lehrauftrag an der Polizeihochschule entzogen und eine Prüfung ihrer Lehrbefähigung eingeleitet.
- Für frühe Theorien, wie die Wahrnehmung von (vermeintlich) herrschenden Normen in den umgebenden sozialen Zusammenhängen zu einer Homogenität in der Meinungsartikulation führt, siehe etwa Daniel Katz & Floyd H. Allport, Student Attitudes. A Report of the Syracuse University Reaction Study (Syracuse: Craftsman, 1931); Lee Ross, David Greene & Pamela House, »The ›False Consensus Effect‹. An Egocentric Bias in Social Perception and Attribution Processes«, in: Journal of Experimental Social Psychology, Nr. 3, Jg. 13 (1977), S. 279–301; sowie Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut (München: Langen-Müller, 1980).
- Siehe etwa Shanto Iyengar u.a., »The Origins and Consequences of Affective Polarization in the United States«, Annual Review of Political Science, Jg. 22 (2019), S. 129–46; sowie Brett Mercier, Jared B. Celniker & Azim F. Shariff, »Overestimating Reported Prejudice Causes Democrats to Believe Disadvantaged Groups Are Less Electable«, in: Political Psychology, Nr. 1, Jg. 44 (2023), S. 95–117.
- Vgl. dazu David G. Myers & Helmut Lamm, »The Polarizing Effect of Group Discussion. The Discovery that Discussion Tends to Enhance the Average Prediscussion Tendency Has Stimulated New Insights about the Nature of Group Influence«, in: American Scientist, Nr. 3, Jg. 63 (1975), S. 297–303.
- Siehe dazu etwa das von der Zeit organisierte und wissenschaftlich begleitete Sozialexperiment »Deutschland spricht«, bei dem Menschen mit unterschiedlichen Voreinstellungen zu einem Vieraugengespräch zusammengebracht wurden, um über ihre Ansichten zu diskutieren; online hier: Für die Auswertung des Experiments siehe Armin Falk, Lasse Stötzer & Sven Walter, »Technical Report: Evaluation Deutschland Spricht«, Working Paper von Briq – Institute on Behavior & Inequality, 2019, online abrufbar hier.
- Siehe Petter Törnberg, »How Digital Media Drive Affective Polarization through Partisan Sorting«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Nr. 42, Jg. 119 (2022), e2207159119.
- Vgl. dazu Russell Muirhead & Nancy L. Rosenblum, A Lot of People Are Saying (Princeton: Princeton University Press, 2019), S. 49.
- Justin Tosi & Brandon Warmke, Grandstanding: The Use and Abuse of Moral Talk (Oxford: Oxford University Press, 2020), insbes. Kapitel 2 (S. 13–42).
- Dabei ist der Impuls, abweichende Ansichten nicht tolerieren zu können, derzeit in progressiven Kreisen wohl sogar etwas ausgeprägter als in konservativen. Eine rigide Moral im Politischen teilen hierzulande etwa besonders Wähler*innen der Grünen und der Linkspartei, womit sie denen der AfD wenig nachstehen. Siehe dazu Maik Herold u.a., »Polarisierung in Deutschland und Europa. Eine Studie zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen in zehn europäischen Ländern« (Dresden: Mercator Forum Migration und Demokratie, 2023).
- Eine nicht leichte Aufgabe, da es gerade vermittelnde Stimmen besonders schwierig haben in den affektiven digitalen Diskursen, die zu eindeutigen Gruppenbekenntnissen und dichotomen Grenzziehungen nötigen. Wer eine nuanciertere Betrachtungsweise einnimmt und Argumente des politischen Gegners partiell nachvollziehen kann, läuft Gefahr, jenem Gegner zugeordnet zu werden und die soziale Anerkennung in seiner peer group zu verlieren. Akteure, die nicht so sehr im Lagerdenken verhaftet sind, haben daher einen strategischen Nachteil, weil sie größere Rechtfertigungsleistungen erbringen müssen als jene, die die opportunen Gewissheiten des Schwarms reproduzieren.
- Auch deswegen wäre zu diskutieren, ob die Beteiligung an Kontroversen auf digitalen Plattformen zumindest in Berufsgruppen, die ein Mindestmaß an Sachlichkeit auszeichnen sollte (z.B. Politiker*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen) als unseriös zu ächten wäre. Ein solcher kollektiver Kodex könnte das Problem des Konformitätsdruck, der auf dem Einzelnen lastet, abfedern.