Die Kanalisation des Protests: Demokratiefeindliche Mobilisierung via Telegram
In welcher Form und in welche Orte mobilisieren demokratiefeindliche Kräfte in Deutschland? Diese Frage hat an Bedeutung gewonnen, da jene Kräfte über die Jahre der Pandemie eine schwer überschaubare Protestkultur herausgebildet haben. Eine zentrale Rolle bei diesen Mobilisierungen rechtsextremer und verschwörungsideologischer Art spielt der Messenger-Dienst Telegram, der in Deutschland ein Sinnbild dafür geworden ist, wie Offline-Proteste heute immer mehr online organisiert werden. Welche regionalen Unterschiede sich dabei zeigen, welche Rolle die ideologische Ausrichtung spielt und wie sich die Schwerpunkte über die Zeit verschieben, behandeln wir in unserem Fokus-Thema.
Der März 2020 stellt einen Einschnitt im deutschen Protestgeschehen dar. Unter dem Titel »Nicht ohne uns« fand damals die erste ›Hygiene-Demonstration‹ in Berlin statt, die verschiedenste Akteure aus dem politischen Spektrum anzog. Im Laufe des Jahres entstand daraus die sogenannte Querdenken-Bewegung, die zunächst vor allem in Baden-Württemberg, dann deutschlandweit die Wut vieler Menschen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung auf die Straße trug. Den größeren Protesten in zentralen Städten folgten dann eher unkonventionelle Spaziergänge auch im ländlichen Raum, wobei auch rechtsextreme Akteure wie die Freien Sachsen (und ihre überregionalen Ableger) an das Protestpotential rund um Pandemiethemen anschließen wollten. Zuletzt wurde gegen Ende 2022 versucht, dieses Potential in einen »heißen Herbst« bzw. einen »Wutwinter« zu übersetzen, um die Russland- und Energiepolitik der Bundesregierung anzuprangern. Insgesamt lässt sich von einem Protestzyklus sprechen, der in der Geschichte rechter und rechtsoffener Kontexte in der Bundesrepublik ein Novum darstellt.
Stand, Land, Mobilisierungsgrund: Rechte Proteste im digitalen Wandel
Lange Zeit organisierte der deutsche Rechtsextremismus seine Straßenpolitik event- und kampagnenorientiert. Auch die Proteste gegen Asylunterkünfte, mit denen man rassistische Ressentiments nachhaltig wecken wollte (sogenannte NIMBY-Proteste), blieben lokal und zeitlich begrenzt. Dann betrat mit PEGIDA 2014 eine Bewegung die Bühne, die stärker online mobilisierte und den Dauerprotest als soziales Happening etablierte.1 Im Oktober 2022 feierte die Bewegung ihren achten Geburtstag; über 240 Demos hat sie bisher abgehalten. Gleichwohl blieb PEGIDA weitgehend ein regionales Phänomen im Dresdner Raum, auch wenn sich zwischenzeitlich diverse *GIDA-Gruppen in anderen Regionen Deutschlands an ähnlichen Mobilisierungen versuchten. Spätestens mit dem Protestzyklus ab 2020 ist diese Begrenztheit nun aufgebrochen worden. Denn es handelt sich dabei um wellenförmige Proteste, die nicht nur einen hohen Grad an territorialer Streuung aufweisen, sondern auch eine hohe Frequenz an Demonstrationen, Kundgebungen und »Spaziergängen«. Auffällig ist zudem, dass sich neuerdings das Protestgeschehen von Orten mit gefestigten Strukturen der extremen Rechten weg verlagert hin zu Orten, wo sie kaum über organisatorische Substanz verfügt.
Begünstigt wird diese Verlagerung durch die sozialen Medien und Messenger-Dienste. Kaum jemand mobilisiert heute noch mit Flyern und Plakaten in Fußgängerzonen, wofür organisierte Kräfte vor Ort nötig sind. Stattdessen finden Aufrufe zu Offline-Protesten heute vorwiegend online statt. Und das in einem Maße, das zivilgesellschaftliche Akteure nicht mehr hinterherkommen lässt, was die Dokumentation demokratiefeindlicher Proteste betrifft. Um hier den Überblick zu behalten, braucht es automatisierte Verfahren, mit denen sich die Fülle an Aufrufen verarbeiten lässt. Die Protestforschung muss sich ebenso wie die Proteste digitalisieren. Ein Zugriff, der sich hierfür anbietet, ist insbesondere der Messengerdienst Telegram. Dieser hat sich mit der Pandemie als politisches Austauschforum, alternative Nachrichtenquelle und Mobilisierungsinstrument etabliert, womit er auch die von Facebook, Twitter & Co. geprägte Landschaft der sozialen Medien aufmischte.
Schon vor der Pandemie wurde der Dienst von extremistischen Gruppen genutzt, um nach Sperrungen auf anderen Plattformen ungefiltert Propaganda auszutauschen.2 Insbesondere die Identitäre Bewegung erkannte schon früh das Potential zur Mobilisierung via Telegram. Ab 2020 dann nutzten immer mehr Menschen im deutschsprachigen Raum die Plattform, um sich über die Pandemie und damit zusammenhängende politische Themen auszutauschen; auch die entstehende Querdenken-Bewegung vernetzte sich darüber maßgeblich, so wie auch rechstextreme Gruppen dort zunehmend aktiv wurden. Zugleich bildete sich ein verzweigtes System von Influencer- und Esoterik-Kanälen heraus, die nicht selten mit dem verschwörungsideologischen Milieu überlappen und so neue Grauzonen bei der Einordnung politischer Milieus schufen. Binnen kürzester Zeit wurde Telegram zu einer Mobilisierungsmaschine: Es gibt kaum einen Protest im demokratiefeindlichen Spektrum, zu dem dort nicht aufgerufen wird oder der dort nicht dokumentiert wird. Entsprechend entwickelte sich die Plattform, die in ihrer Charakteristik zwischen Messengerdienst und sozialem Medium changiert, auch zu einem idealen Untersuchungsgegenstand, um neuartige Mobilisierungen, insbesondere rund um Corona-Themen, genauer zu erfassen.
Empirische Studien belegten hier bereits früh ein hohes, konstantes Mobilisierungspotential für Corona-bezogene Anliegen und seit Ende 2020 auch einen erhöhten Grad an Polarisierung.3 Zugleich zeigen qualitative Untersuchungen, dass Demographie und politische Haltung durchaus divers sind; auch regionale Unterschiede sind auffällig.4 Ins Auge sticht dabei, dass viele Akteure sich an seriellen Protestroutinen wie den Montagsdemos orientieren und/oder den harmlos klingenden Begriff des ›Spaziergangs‹ übernommen haben, mit dem ein breiteres Publikum angezogen werden soll. Eine gängige Annahme in der Forschung ist, dass solch eine kontinuierliche Mobilisierung ohne digitale Mittel nicht (mehr) möglich wäre, zumal es sich um eine heterogene Bewegung handelt, die stark von Akteuren mit kaum gewachsenen Strukturen getragen wird.5 Viele bei Untersuchungen befragte Menschen gaben auch an, über Telegram von Protesten in ihrer Region erfahren zu haben oder sich über den Dienst mit anderen darüber auszutauschen.6 Deutlich wurde auch, dass sich über die Jahre ein Stamm an potentiellen Protestierenden etabliert hat, der sich flexibel für verschiedene Themen mobilisieren lässt. Allerdings gibt es bisher keine verlässlichen Daten zur Quantifizierung der Proteste.
Wellen der Mobilisierung: Protestaufrufe im Zeitverlauf
Um zu untersuchen, wer wohin zu Protesten aufruft, haben wir aus 1.503 Telegram-Kanälen rund zehn Millionen Nachrichten aus dem Zeitraum von April 2020 bis November 2022 ausgewertet. Dabei identifizierten wir zunächst Nachrichten, die potentiell eine Ortsnennung enthielten und bereinigten diese Liste von Treffern, die sich nicht klar zuordnen lassen.7 Auf diese Weise konnten 927.408 Nennungen von insgesamt 9.497 verschiedenen Orten in Deutschland identifiziert werden. Für die Erkennung von Mobilisierungsbotschaften wiederum haben wir einen Classifier trainiert, der automatisch Aufrufe zu Protesthandlungen im Offline-Kontext identifiziert. Gemeint sind damit Aufforderungen zur Teilnahme an einer kollektiven Handlung im nicht-digitalen Raum.8 Im Ergebnis können wir erstmals Aussagen darüber treffen, wer wann in welcher Region zu Protesten aufruft und mit validen absoluten Zahlen eine wichtige Dimension der relevanten Protestwelle konturieren: die der Mobilisierungswilligkeit. Über die Dimension der Mobilsierungsfähigkeit, also darüber, ob Proteste auch wirklich stattfanden und wie groß sie waren, lassen sich mit diesen Daten allerdings keine Aussagen treffen. Aus ihnen lassen sich Netzwerke von Kanälen ablesen, die sozusagen die digitale Kanalisation des Protests abbilden; als solche können sie mit Daten zu Protesten auf der Straße korreliert werden.
Insgesamt konnten wir rund 95.000 Nachrichten identifizieren, die Aufrufe mit einem oder mehreren Ortsbezügen beinhalten. Die Intensität der Aufrufe ist über den untersuchten Zeitraum hinweg schwankend, was indirekt zumindest vorsichtige Rückschlüsse auf das Mobilisierungspotential zulässt. Eine erste Spitze lässt sich im Jahr 2020 in der 35. Kalenderwoche (24. bis 30. August 2020) ausmachen: die Woche also, in der die Treppen des Reichstags am Rande einer Querdenken-Demonstration »gestürmt« wurden. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Proteste gegen die Corona-Politik der Bundesregierung auf einem ersten Höhepunkt und aus ganz Deutschland mobilisierten Akteure nach Berlin. Allein in den Tagen vor besagter Demonstration konnten wir 408 Aufrufe zu Protesten in Berlin feststellen. Mit der folgenden Repression und dem öffentlichen Aufschrei ließ die Mobilisierung deutlich nach; es kam zu Zerwürfnissen innerhalb der Bewegung, insbesondere in der Frage, wie mit rechtsextremen Teilnehmer*innen an den Demonstrationen umzugehen sei. Die Diskussion um einen zweiten Lockdown im Herbst 2020 verhalf ihr allerdings zu neuem Leben, als die Einschränkungen der Mobilität, die Maskenpflicht sowie die Maßnahmen des Social Distancing als Anlass genommen wurden, gegen eine vermeintliche »Corona-Diktatur« zu demonstrieren.
Höhepunkt dieser zweiten Protestwelle war die Mobilisierung nach Leipzig im November 2020, wo es zu gewaltsamen Ausschreitungen kam. In den Tagen zuvor lassen sich 224 Aufrufe zum Protest in der sächsischen Großstadt finden. Danach ebbten die Proteste schnell wieder ab, vermutlich wegen der Sanktionen, die mit dem »Lockdown light« Mitte November und dem zweiten Lockdown im Dezember einhergingen. Das änderte sich allerdings Anfang 2021. Auch hier wurde erneut zu Protesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen in Großstädten mobilisiert; Verbote von Demonstrationen oder die Androhung solcher Verbote wirkten sich nun gar förderlich auf die Mobilisierungsaufrufe aus, wenngleich sich solche noch nicht in Massenproteste übersetzten, wie sie dann im Spätsommer 2021 stattfanden. Im November 2021 erreichten die Proteste schließlich eine neue Dimension, sowohl in Ausmaß als auch Charakter. Zuvor wurde die 3G-Regel am Arbeitsplatz eingeführt, was viele als indirekte Impfpflicht werteten. »Spaziergänger*innen« tauchten nun auch in kleinen Städten auf; ihre Versammlungen wurden oft ohne Anmeldung und gegen geltende Infektionsschutzgesetze durchgeführt.
Die Mobilisierung im Winter 2021/22 rund um ein mögliches Gesetz zur Impfpflicht war der vorläufige Höhepunkt des Protestzyklus. Weder die Feiertage noch das winterliche Wetter wirkten dabei hinderlich. Bis zu 2.968 Aufrufe pro Woche lassen sich etwa im Januar 2022 finden. Mit dem Auslaufen der Corona-Maßnahmen und dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022 wurden dann vermehrt Energiefragen zum Mobilisierungsthema im untersuchten Spektrum. Jedoch konnte die Bewegung trotz des ausgerufenen »heißen Herbstes« kein neues Momentum kreieren. Der Höhepunkt solcher Mobilisierungen war schon mit der Demonstration Anfang September 2022 in Leipzig erreicht, die eigentlich als Auftakt größerer Proteste geplant war. Zwar war das Niveau an Aufrufen durchgehend höher als es noch 2020 der Fall war, doch muss hier auch berücksichtigt werden, dass sich die Patchwork-Bewegung, die den Protestzyklus ausmacht, erst Ende 2020 als stabiler Zusammenhang herausgebildet hat. Darüber hinaus hatte sich Telegram erst im Laufe desselben Jahres zu einer Trend-App entwickelt und massiv an Nutzer*innen gewonnen, so dass Vergleiche mit der Zeit davor nur bedingt Aussagekraft haben.
Ideologisches Geomapping: Die regionale Verteilung der Aufrufe
Wie verteilen sich die Aufrufe über ganz Deutschland? Welche regionalen Muster lassen sich erkennen? Absolut gesehen gibt es eine Konzentration auf große Städte und Metropolregionen, die traditionell Austragungsorte von mittleren und größeren Demonstrationen sind. Einige Städte wie Stuttgart als Hort von Bürgerprotesten (Stuttgart 21) und Wiege der Querdenken-Bewegung haben zudem einen symbolischen Charakter gewonnen, der mit kollektiven Erinnerungen an vorherige Protestereignisse zusammenhängt, wodurch sie sich als Mobilisierungsort anbieten. Besonders sticht allerdings das Bundesland Sachsen hervor: Knapp 100.000 Aufrufe zu Protesten in sächsischen Orten wurden erfasst (99.809 Aufrufe in 15.704 Nachrichten).9 Dabei lassen sich neben den Großstädten Dresden und Leipzig auch größere und mittelgroße Städte mit einer starken rechtsextremen Szene wie Chemnitz, Bautzen, Plauen oder Greiz als Mobilisierungszentren ausmachen. Auffällig ist auch, dass kleine Städte sehr häufig Teil von Sammelaufrufen sind. Das heißt: Sie werden im Zusammenhang mit vielen anderen Städtenamen in mehr oder weniger langen Listen erwähnt, offenbar auch, um sich als größere Bewegung inszenieren zu können.
Feststellen lässt sich zudem, dass sich im Telegram-Kosmos eine Reihe von Accounts herausgebildet haben, die als Aggregatoren von Protestaufrufen fungieren und lokale Bemühungen bundesweit sichtbar machen. So ist es durchaus keine Seltenheit, dass rechtsextreme Influencer wie Ignaz Bearth, der aus der Schweiz agitiert, für »Spaziergänge« in der sächsischen Provinz werben. Hier wird Aufmerksamkeit potenziert: Der als Milieumanager agierende Bearth bekommt potentiell neue Spender*innen und die lokale Protestgruppe fühlt sich von der überregionalen Erwähnung geschmeichelt. Ein weiteres Merkmal sind Demonstrationskalender, mittels derer auf Telegram Orte und Zeitpunkte geteilt werden oder von denen aus auf eine App verlinkt wird, wo sich die genauen Daten finden.10 Dass diesen Kalendern zufolge jeden Montag über 1.500 Demonstrationen deutschlandweit stattfinden würden, sagt viel über das überzogene Selbstbild einer auf post-faktischen Weltbildern beruhenden Bewegung aus. Dennoch ist eine Tatsache, dass sich die geographische Streuung der Mobilisierungsaufrufe im Laufe der Zeit verändert hat: Die anfängliche Fokussierung auf Metropolen wich einer auf weniger urbane Gebiete.
So ist im Zeitverlauf eine Zunahme von Aufrufen in Gebieten mit geringer und mittlerer Besiedlungsdichte erkennbar, vor allem um die Jahreswende 2021/22, den Höhepunkt der weniger strukturierten »Spaziergänge«. Eine Vielzahl dieser Aufrufe ging auch von Accounts aus, die selbst kaum oder gar nicht überregional mobilisieren. Dies wie auch die Tatsache, dass die Mobilisierung in dicht besiedelte Gebiete abnahm, lässt vermuten, dass die Rolle klassischer Bewegungsakteure abgenommen hat, wenngleich immer wieder auch Prestige-Demos in größeren Städten (erfolglos) versucht wurden.11 Erklären lässt sich das mitunter durch die Mobilitätseinschränkungen, die die Menschen stärker an ihre Wohnorte band. Viele kleine Städte haben zudem keine Polizeidienststelle, so dass Aufmärsche ungestört durchgeführt werden können. Außerdem wurden mit den Protesten nun stärker auch Lokalpolitiker*innen unter Druck gesetzt, sich nicht an der Umsetzung von Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu beteiligen. Überdies eröffnete die Präsenz vor Ort eine niedrigschwelligere Möglichkeit zur Rekrutierung neuer Anhänger*innen und Teilnehmer*innen für zukünftige Proteste. Die Freien Sachsen mit ihren dutzenden Lokalgruppen sind sichtbarer Ausdruck dieser Lokalisierung rechtsextremer Dissidenz.
Eine besondere Herausforderung birgt die ideologische Differenzierung der Protestakteure, da sich einige Akteure nicht in die bekannten Kategorien einordnen lassen – aber auch, weil sie oft sprunghaft sind, was ihre Positionierung und ihre Verbindungen mit politischen Gruppen betrifft. Um dennoch Aussagen über ideologische Varianzen im relevanten Spektrum und die Charakteristika der Mobilisierung in verschiedenen Regionen treffen zu können, haben wir von den 1.260 aufrufenden Accounts, die erfasst wurden, 725 in politische Lager eingeteilt, um die regionale Prävalenz von spezifischen politischen Milieus zu bestimmen. Auffallend ist dabei, dass zu den Protesten in Sachsen am stärksten von rechtsextremen Gruppen mobilisiert wurde, während die Querdenken-Bewegung vor allem in Baden-Württemberg stark ist. Außerdem bleibt in Sachsen das Mobilisierungslevel nach dem Winter 2021/22 hoch, während es woanders deutlich nachließ – was auf eine unterschiedlich starke Verankerung organisierter Kräfte verweist. Im Ergebnis kann gesagt werden, dass die Überlappung von Ideologien vor Ort jeweils nicht so stark ist, sondern man es eher mit einer regionalen Arbeitsteilung zu tun hat, bei der in einem jeweiligen regionalen Raum ein bestimmter Akteurstyp die relevanten Themen dominant besetzt hat.
Fragile Lokalisierung: Eine Schlussbetrachtung
Abschließend haben wir aus unserem Datensatz Netzwerke generiert, um Aussagen über die Kooperation zwischen den Akteuren zu treffen. Hierzu haben wir die Weiterleitungen von Aufrufen in drei Intervalle eingeteilt: die Anfangszeit der Pandemie, die Zeit der massiven Proteste im Winter 2021/22 und die Zeit ab Frühjahr 2022, als die Proteste durch den Krieg in der Ukraine einen neuen Spin bekamen. Feststellen lässt sich hier, dass die Akteure aller ideologischen Milieus ihre Aufrufe untereinander geteilt haben. Das Weiterleitungsnetzwerk ist stets dicht und es gibt nur ein nennenswertes Cluster; die Zahl an isolierten Akteuren, die bloß für sich mobilisieren, ist gering. Nur am Vorabend des angekündigten »heißen Herbst« nimmt die Netzwerkdichte leicht ab. Man kann dann einige rechtsextreme Kanäle an der Peripherie ausmachen, die zwar an das Hauptcluster angeschlossen sind, aber stärker unter sich bleiben. Im großen Cluster in der Mitte wird ferner eine leichte Polarisierung zwischen Kanälen von Querdenker*innen und Rechtsextremen sichtbar, in deren Zentrum die Freien Sachsen sehr aktiv sind. Dennoch kommunizieren die Pole weiter relativ stark miteinander.
Grundlegend zeigt die Datenauswertung ein aufschlussreiches Bild der Akteure hinter den Mobilisierungsversuchen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Aufrufenden Personen oder Gruppen, die sich politisch erst seit der Corona-Pandemie hervorgetan haben. Die wenigsten davon sind Mitglieder in festen Organisationen, Parteien oder Bewegungen, sondern starteten ad hoc als Online-Aktivist*innen mit eigenen Telegram-Kanälen, die sich recht schnell eine Followerschaft und damit einen gewissen politischen Einfluss aufbauten, zum Teil auch wirtschaftliches Kapital generierten. Das politische Unternehmertum, das sich insbesondere an der Spitze der Querdenken-Bewegung findet, setzt auf flexible, sich stets wandelnde Verbindungen, die langfristig schwer politisch einzuschätzen sind. Auf der einen Seite hat es Telegram ermöglicht, dass die Kommunikation über Proteste zu einem Teil des Alltags wurde und als soziales Bindemittel über politische Trennlinien hinweg funktioniert. Andererseits macht die damit verbundene Dezentralität des Protests die Mobilisierung auch fragil, da es an Verbindlichkeiten mangelt.
Diese Fragilität zu überwinden, war insbesondere das politische Projekt der Freien Sachsen, deren Gründungsmitglieder sich aus organisierten Neonazi-Kreisen rekrutiert haben und das Mobilisierungspotential der Corona-Proteste in ein rechtsextremes Fahrwasser zu kanalisieren versuchten. Dieses Vorhaben gelang in vielen Regionen Sachsens erstaunlich gut: Die Organisation schaffte es, nicht nur zum zentralen Akteur im mobilisierungsstärksten Bundesland zu avancieren, sondern auch bundesweit eine Schlüsselrolle in den Kommunikationsnetzwerken einzunehmen. Ihr Telegram-Kanal, der vom Dortmunder Neonazi Michael Brück geleitet wird, war mit seinen über 150.000 Follower*innen ein wichtiger Anlaufpunkt und bot sich stets als Multiplikator an, um lokale Proteste miteinander zu verbinden. In der Praxis sogen die Freien Sachsen allerdings auch die Ressourcen anderer Organisationen auf. So ist es auffällig, dass Proteste, die in einigen Regionen zunächst noch unter Querdenken-Fahne liefen, bald von den Freien Sachsen ko-optiert wurden.
Die Lokalisierung rechtsextremer Politik, wie sie von den Freien Sachsen praktiziert wird, war ein Erfolgskonzept, an dem sich viele weitere Akteure orientierten. So verbreitete sich das überparteiliche Organisationsprinzip, das verschiedene politische Gruppen vor Ort unter einem Mobilisierungsschirm miteinander verbinden will, auf weitere Bundesländer. Auffällig ist allerdings der oftmals künstliche Charakter dieser Nachahmungen: Sie starteten alle im November 2021 und gingen mit der Mobilisierung direkt in die Vollen – ein deutliches Zeichen für Astroturfing. Dass etwa die Freien Nordrhein-Westfalen als wichtiger Akteur in unseren Daten aufkreuzt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Gruppe, die von Brück gestartet wurde, sächsische Verhältnisse in andere Bundesländer exportieren möchte, ohne auf einer gewachsenen Bewegung aufbauen zu können. Mobilisierungswilligkeit ist eben nicht gleich Mobilisierungsfähigkeit. Gleichwohl ermöglichen es digitale Techniken Aktivist*innen, eine gewisse Größe vorzutäuschen, die auf Sympathisant*innen durchaus aktivierend wirken kann. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass die digitale Simulation einer Bewegung tatsächlich eine solche auch real fördern könnte.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Pablo Jost, »Die Kanalisation des Protests. Demokratiefeindliche Mobilisierung via Telegram«, in: Machine Against the Rage, Nr. 1, Winter 2023, DOI: 10.58668/matr/01.2.
Verantwortlich: Hendrik Bitzmann, Harald Sick, Maik Fielitz, Holger Marcks.
- Siehe dazu Sabine Volk, »Die rechtspopulistische PEGIDA in der COVID-19-Pandemie. Virtueller Protest ›für unsere Bürgerrechte‹«, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Nr. 2, Jg. 34 (2021), S. 235–248.
- Siehe Aleksandra Urman & Stefan Katz, »What They Do in the Shadows. Examining the Far-right Networks on Telegram«, in: Information, Communication & Society, Nr. 7, Jg. 25 (2022), S. 904–923.
- Siehe z.B. Edgar Grande u.a., »Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland«, WZB Discussion Paper, ZZ2021-601, März 2021, online hier.
- Siehe generell Wolfgang Benz (Hg.), Querdenken. Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr (Berlin: Metropol-Verlag, 2021).
- Vgl. Boris Holzer u.a., »Einleitung: Protest in der Pandemie«, in: Sven Reichardt (Hg.), Die Misstrauensgemeinschaft der »Querdenker«. Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive (Frankfurt a.M.: Campus, 2021), S. 15; Martin Seeliger & Sebastian Sevignani, »Zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Demokratie. Ein neuer Strukturwandel?«, in: dies. (Hg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?, Sonderband Leviathan 37 (Baden-Baden: Nomos, 2021), S. 32.
- Siehe Markus Brunner u a., »Corona-Protest-Report. Narrative – Motive – Einstellungen«, auf: SocArXiv, 30. Juli 2021, online hier.
- Für Genaueres zum Vorgehen siehe den Annex zur Methodik der Untersuchungen in dieser Ausgabe.
- Hierunter fallen die klassischen Mittel des realweltlichen Protests bzw. des zivilen Ungehorsams, etwa in Form von Aufrufen/Ermunterungen zu Demonstrationen, Mahnwachen, Bürgerwehren, Autokorsos, aber auch zum Plakatieren, Flyerverteilen, Straßenblockieren. Auch das Nicht-Tragen von Masken oder das Verweigern von Covid-Testungen zählt dazu.
- Vgl. dazu auch Isabelle-Christine Panreck, »Corona-Proteste in Sachsen«, in: Steffen Kailitz (Hg.), Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Sachsen (Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, 2021), S. 109–118.
- Siehe www.spaziergang.app/ oder auch www.protestkarte.de/.
- Siehe Iris Mayer, »Demo der Rechtsextremen in Leipzig floppt«, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Nov. 2022, online hier.