Winter 2023: Ein bisschen Frieden, ein bisschen Schäumen
Was passierte im vergangenen Quartal in den digitalen Sphären von Demokratiefeind*innen? Im Radar teilen wir zentrale Ergebnisse unseres datenbasierten Monitorings und analysieren die sich abbildenden Trends. Im Zentrum stehen dieses Mal die polarisierenden Debatten zum Umgang der deutschen Bundesregierung mit dem Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden Mobilisierungen unter dem Friedensbanner, die die Grenzen zwischen politischen Lagern zu verwischen scheinen. Um den Durchblick in dieser neuen Unübersichtlichkeit behalten zu können, bedienen wir uns einer ausgefeilten digitalen Toolbox – dieses Mal mit einem Schwerpunkt auf der sogenannten Friedenskundgebung am Brandenburger Tor im Februar 2023.
Der vergangene Winter stellte eine Periode relativer Unsicherheit dar. Die Inflation und die Möglichkeit exorbitanter Energierechnungen bereiteten vielen Menschen Sorge. Dennoch blieb der »Wutwinter«, der zwischenzeitlich als Schreckgespenst an die mediale Wand gemalt wurde, auf der Straße aus. Stattdessen sehen wir nun, ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, einen neuen Bewegungsimpuls: die Forderung nach einem Waffenstillstand im Russisch-Ukrainischen Krieg. Unter dem Eindruck der militärischen Unterstützung für die Ukraine schäumt ein heterogenes Gemisch auf die Straße, das Symbole der Friedensbewegung mit Russland- und Sowjet-Fahnen, aber auch dem einen oder anderen AfD-Plakat vereinigte. Diese neue Melange, die insbesondere mit dem von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer ausgerufenen »Aufstand für Frieden« verbunden wird, wurde wiederholt schon als »Querfront« beschrieben.1 Neben den allgemeinen Entwicklungen im demokratiefeindlichen Spektrum wirft der Radar in dieser Ausgabe daher auch einen Blick auf diese spezielle Entwicklung.
Was bisher geschah: Vom Blackout zur Querfront?
In unseren vorherigen Ausgaben hatten wir uns bereits mit demokratiefeindlicher Stimmungsmache im Kontext einer zu erwartenden, schließlich aber weit weniger gravierenden Energiekrise beschäftigt. Neben einem Seitenblick auf die digitale Reichsbürgerszene legte der letzte Radar auch ein Augenmerk darauf, wie es mit den Debatten um einen »heißen Herbst« und »Wutwinter« weiterging.2 Unter diesen Begriffen waren bereits im letzten Spätsommer Kampagnen angestimmt worden, die dem auslaufenden Protestzyklus von rechts eine neue Dynamik geben sollten.3 Insbesondere wurde damals das Szenario eines »Blackouts« lanciert, der etwa durch eine kollabierende Stromversorgung entstehen würde.4 Allerdings vergeblich. Denn dieses Szenario ist ebenso wenig eingetreten wie größere Mobilisierungen im Herbst und Winter rund um das Thema.5 Auffällig war jedoch zu diesem Zeitpunkt, also zum Jahreswechsel, bereits, dass die Linken-Politikerin Wagenknecht auf Twitter in einem AfD-nahen Cluster auftauchte. Dies kam dadurch zustande, dass sie von rechts viel stärker rezipiert wurde als aus dem Umfeld der Linken.
Seit längerem schon steht der Vorwurf gegen Wagenknecht & Co. im Raum, dass die Nähe zu Russland, die offene Feindschaft zu den Grünen sowie die plakative Ablehnung einer »Lifestyle-Linken« sie in die Nähe rechtsextremer Diskurse bringe.6 Als die Co-Initiatorin des »Manifests für Frieden«7 nun für den 25. Februar zur Demonstration in Berlin aufrief, lud sich auch der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla mit ein,8 womit er sie zu einer Positionierung zwang. Wagenknecht entschied sich zunächst dafür, die rechten Gäste auszuladen, nur um kurz nach einer Intervention Oskar Lafontaines9 wieder zurückzurudern und alle Menschen, die »für den Frieden« seien, willkommen zu heißen.10 Diese beliebige Haltung rief Unmut aus vielerlei Richtungen hervor. Rund um den Hashtag #AufstandfürFrieden entwickelte sich eine erhitzte Debatte über Krieg und Frieden einerseits und über eine Querfront von links und rechts andererseits.11 Die polarisierte Debatte fand ihre Fortsetzung unter dem Hashtag #b2502, wo zahlreiche Meinungen zu der Demonstration und ihren Teilnehmer*innen zu finden waren.
Was sich auf Twitter abbildet: Konturen der Polarisierung
In dem von uns modellierten Retweet-Netzwerk, das aus relevanten Hashtags erstellt wurde, zeigt sich eine deutliche Bipolarität des Diskurses rund um das »Manifest für Frieden« und den »Aufstand für Frieden«. Die diskursive Zuspitzung in der Twitter-Debatte lässt sich also bereits in der antagonistischen Anordnung der Netzwerke erkennen. Auf der einen Seite, dem Lager um Wagenknecht und das EMMA-Magazin, dominiert die Werbung für das Manifest und den Aufruf. Auf der anderen Seite finden wir die Kritiken daran, die von diversen Kommentator*innen, Politiker*innen und zivilgesellschaftlichen Akteuren geäußert wurden. Auch die Befürchtungen einer drohenden Querfront zwischen der Wagenknecht-Linken und rechten Akteuren waren hier zu vernehmen. Viele Akteure der Wagenknecht-kritischen Diskurskoalition twitterten außerdem über neueste Entwicklungen im Krieg, insbesondere zu Kriegsgräueln, unter den relevanten Hashtags, um sie dem politischen Gegner und Interessierten am Geschehen präsent zu machen.
Auf der anderen Seite sehen wir diverse rechte und verschwörungsideologische Agitator*innen, die nah um Wagenknecht gruppiert sind. Das muss nicht zwangsläufig heißen, dass sie direkt miteinander interagieren. Ebenso können sie auch durch das Retweet-Verhalten einer ähnlichen Audienz verbunden sein, mitunter wegen geteilter Feindbilder. Auffällig sind hier etwa Polemiken und verächtliche Kommentare gegen die Grünen, allen voran Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock, sogenannte Mainstream-Medien im Allgemeinen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Besonderen. Eine zentrale Diskussion entspann sich ferner um die Frage, inwiefern die Demonstration tatsächlich von rechtsextremen Kräften unterwandert wurde, wie in verschiedenen Twitter-Diskussionen und auch Presseberichten vermutet wurde. Die Organisatorinnen selbst wiesen diesen Vorwurf scharf zurück: Es handele sich dabei um den Versuch einer Delegitimierung ihres Protests.
Wer auf Telegram aufruft: Die extreme Rechte und der Frieden
Dabei mag es sicherlich unstrittig sein, dass rechtsextreme Personen und Gruppen zumindest vereinzelt vor Ort am Protest in Berlin beteiligt waren. Inwiefern allerdings aus diesem Milieu ernsthaft zu der Friedensdemonstration mobilisiert wurde, ist bisher nicht behandelt worden. Ganz untypisch wäre das nicht. Schon länger wird von rechtsextremer Seite versucht, das Thema Frieden zu besetzen. So veranstalteten Neonazis in Dortmund bereits mehrfach einen »Nationalen Antikriegstag«, während des Bürgerkriegs in Syrien forderten Rechtsextreme einen Frieden mit Assad, und auch die Parole »Frieden mit Russland« war bereits im Sommer 2022 auf den Transparenten der Freien Sachsen zu sehen. Bekannt ist außerdem, dass sich auch die Friedensbewegung seit den »Mahnwachen für den Frieden« 2014 zunehmend mit rechten Einflüssen auseinandersetzen muss; bei den jüngsten Ostermärschen, bei denen die Sorge einer rechten Unterwanderung immer lauter wurde, spitzte sich das Problem noch einmal zu.12 Insofern bot die Demonstration am Brandenburger Tor prinzipiell eine Möglichkeit, unter großer medialer Aufmerksamkeit weiter am Image als Friedensapostel zu arbeiten.
Um besser abschätzen zu können, wer genau zu dem Event in Berlin in welchem Maße aufgerufen hat, haben wir unseren Klassifikator für Protestmobilisierungen auf die von uns gemonitorten Telegram-Kanäle angewendet, gepaart mit einer Stichwortsuche.13 Dabei fällt auf, dass die meisten Aufrufe aus verschwörungsideologischen und Querdenken-Kontexten stammen – und viel weniger aus der klar rechtsextremen Ecke. Im rechtsextremen Cluster selbst sehen wir nur vereinzelte Aufrufe, viele von ihnen weitergeleitet von Accounts mit anderer ideologischer Färbung – beispielsweise Querdenken-Kanälen. Im Vergleich zu anderen Themen fällt hier die Reichweite sehr gering aus. Man kann also nicht sagen, dass vom rechtsextremen Milieu auf Telegram eine nennenswerte Dynamik der Mobilisierung für diese Veranstaltung ausging. Vielmehr sahen wir, dass rechtsextreme Influencer wie Nikolai Nerling (»Der Volkslehrer«) vehement versuchten, medial aufzufallen. Nicht zuletzt gab es Zwietracht im rechten Lager in der Frage, wie man sich zu Protesten verhalten solle, die von einer Feministin und einer Gallionsfigur der Linken angeführt würden.
Was das Nebengeschehen verrät: Die Demonstration in Ramstein
Die Analyse der Aufrufe zeigt, dass einige bekannte Gruppen der extremen Rechten nicht zur Kundgebung mobilisierten, darunter der Dritte Weg, die NPD oder die Identitäre Bewegung. In manchen Fällen erklärt sich das mit klaren inhaltlichen Differenzen. Der Dritte Weg etwa befürwortet Waffenlieferungen an die Ukraine. In anderen Fällen ist die Zurückhaltung auf identitäre Vorbehalte zurückzuführen: Man will sich nicht von einer Linken-Politikerin die Agenda vorgeben lassen. Nicht zuletzt gab es auch deswegen ein Unbehagen in der Szene, weil die Kundgebung in Berlin eine andere, bereits vorher angekündigte »Friedensdemonstration« in den Schatten stellte: Diese fand am 26. Februar unter dem Motto »Airbase Ramstein Schließen: Ami Go Home« am angesprochenen US-Luftwaffenstützpunkt statt. Hier bot sich schon rein äußerlich ein ganz anderes Bild. Während tags zuvor am Brandenburger Tor auf einschlägige Symbole mit rechter Prägung weitgehend verzichtet wurde, war die Demonstration in Ramstein ein lang geplanter rechtsextremer Aufmarsch, zu dem auch über Telegram ganz anders mobilisiert wurde.
Für die Organisation der Demonstration in Ramstein, die rhetorisch an die anti-amerikanische Kampagne »Ami Go Home« des Compact-Magazins anschloss,14 war insbesondere der rechtsextreme Kanal Aufbruch Frieden zentral. Über ihn wurden die Anfahrt und andere logistische Fragen geregelt; dort wurden viele Initiativen vernetzt. Auffällig ist zudem, dass russische Propagandakanäle hier viel offener auftraten und der Demonstration beipflichteten. Bei der Verbindung von russischer Propaganda und extremer Rechte spielt die Putin-Propagandistin Elena Kolbasnikowa,15 die wiederum mit dem russischen Propagandanetzwerk Infodefense in Verbindung steht, eine wichtige Rolle. Auch AfD-Leute waren in Ramstein sichtbar vertreten. Insgesamt zeigt der vergleichende Blick auf die beiden Demonstrationen, dass für eine Einschätzung des Geschehens auf der Straße Daten der Online-Mobilisierung unbedingt zu berücksichtigen sind. In diesen beiden Fällen etwa lässt sich bereits an den Mobilisierungsaufrufen auf Telegram ablesen, dass in Berlin und Ramstein sehr verschiedene Konstellationen zu erwarten waren.
Wer wen teilt: Demokratiefeindliche Netzwerke auf Telegram
In welche Konstellation und Entwicklungen sich die Mobilisierung zum Thema Frieden einfügt, zeigt unser allgemeines Monitoring. Seit August 2021 monitoren wir demokratiefeindliche Kanäle auf dem Messenger-Dienst Telegram und bauen unsere Infrastruktur stetig aus. Jüngst konnten wir unsere Grundgesamtheit auf über 60.000 Kanäle ausbauen, von denen wir 3.000 deutschsprachige Kanäle in unserem Dashboard abbilden.16 Ausgehend von diesem Pool an Accounts haben wir 1.633 Kanäle qualitativ in definierte Kategorien eingeteilt, um besser verstehen zu können, wie verschiedene Ideologien im Telegram-Kosmos miteinander zusammenhängen und wie sich die Vernetzung (gemessen anhand des Weiterleitungsverhaltens) über Zeit entwickelt. Für das vergangene Quartal (Winter 2023), zu dem Daten bis Ende Februar gesammelt wurden, konnten wir wenig Veränderungen im Vergleich zum vorangegangenen Quartal feststellen. Die Dichte des Netzwerks bleibt weiterhin auf einem sehr hohen Niveau. Das heißt, dass es kaum isolierte Cluster gibt, die Informationen also rege unter den Akteuren unterschiedlicher Milieus geteilt werden und sich dadurch relativ schnell verbreiten.
Im Zentrum des Netzwerks stehen insbesondere rechte Alternativmedien und verschwörungsideologische Influencer wie AUF1, Eva Herman und Ken Jebsen, die den höchsten Outdegree besitzen. Das heißt, sie werden oft und von unterschiedlichen Milieus geteilt. Dies trifft ebenso auf die Freien Sachsen zu, die den höchsten Zentralitätswert einer politischen Organisation aufweisen. Weit seltener, aber trotzdem erstaunlich zentral treten Accounts auf, die humorvolle Inhalte produzieren und aggregieren, mit denen rassistische Stereotype verbreitet werden. Weiterhin können wir anhand unserer Daten darstellen, wie sich das Weiterleitungsverhalten in und zwischen den Milieus entwickelt. Im Vergleich zum vorangegangenen Quartal lassen sich also keine signifikanten Veränderungen herausarbeiten. Weiterhin werden die meisten Nachrichten aus der eigenen ideologischen Umgebung geteilt. Diese Charakteristik ist besonders ausgeprägt bei den QAnon-Kanälen.
Worüber kommuniziert wird: Themen und ihre Karrieren
Im Gegensatz zu den eindeutigen metrischen Werten im Weiterleitungsverhalten gestaltet es sich schwieriger nachzuvollziehen, worüber sich die Akteure im vergangenen Quartal inhaltlich ausgetauscht haben. Die insgesamt 2,5 Millionen Nachrichten,17 die über die Kanäle geteilt wurden, lassen sich nicht immer in klare Themen einordnen, schon gar nicht manuell. Zudem entstehen neue Themen, alte verschwinden und andere ändern ihre sprachliche Ausprägung. Um diese großen Datensätze zu ordnen und Erkenntnisse zu gewinnen, benötigt es automatisierte Methoden, die latente Strukturen in den Dokumenten erkennen, etwa in Form von Wortwahrscheinlichkeitsverteilungen. Mithilfe dieses Topic-Modelling-Verfahrens haben wir – wie in den vergangenen Ausgaben – 120 Themen berechnet, die dann mit Labels versehen wurden. Sie wurden auf drei Ebenen aggregiert, um einen besseren Überblick zu erhalten. Der Zeitraum der Themenerkennung erstreckt sich dabei stets über den Verlauf der vergangenen 15 Monate.18 Das Themenmodell dient der Übersicht und hilft zu verstehen, wo die thematischen Schwerpunkte der verschiedenen Milieus liegen.
Übergreifend am stärksten vertreten sind Inhalte rund um Protest und Mobilisierung. Fast 20 Prozent der Texte handeln von Aufrufen, staatlicher Repression und Unterstützungsappellen. Deutlich weniger als zuvor wird Corona thematisiert, wohingegen sich Themen, die mit Russland und der Ukraine zusammenhängen, konstant halten. Nach Milieus unterteilt gibt es wenig Veränderungen: Rechtsextreme thematisieren stärker die allgemeine Politik und Einschätzungen zum Protestgeschehen, während Corona-Themen nur noch bei Querdenker*innen und Pandemie-bezogenen Kanälen beliebt sind. Was die Proportionierung der Inhalte betrifft, sehen wir auf der aggregierten Themenebene wenig überraschende Trends. Mit Russland und der Ukraine verbundene Themen wurden in fast allen Milieus mehr debattiert, während Corona-bezogene Gruppen etwas weniger monothematisch geworden sind. Beim Blick auf spezifische Themen gibt es jedoch Auffälligkeiten. So wurde Migration in rechtsextremen Kreisen wieder stärker thematisiert, einschließlich dazugehöriger Protestaufrufe. Interessant ist auch eine Spitze beim Thema »Tech-Sektor«, die im Dezember besonders im QAnon- und weiterem Verschwörungslager ausschlug. Hier gab die Veröffentlichung der »Twitter Files« Anlass zu Diskussionen.19
Die Spitze des Eisbergs: Metrische Trends im Winter 2023
Abschließend fassen wir metrische Trends für das vergangene Quartal zusammen. Dabei schauen wir auf die Zahl der Subscriber, um nachzuvollziehen, welche Kanäle sich im Aufwind befinden. Hier separieren wir große Kanäle mit mehr als 20.000 Subscribern, um Sättigungserscheinungen bei etablierten Kanälen zu berücksichtigen. Der Kanal der Freien Sachsen etwa, einer der größten rechtsextremen Kanäle, stagniert seit nun mehreren Monaten um eine Schwelle von 150.000 Subscribern. Wie schon in der vorherigen Ausgabe festgestellt, liegt eine solche Sättigung bei russischen Propagandakanälen nicht vor, weshalb sowohl große als auch kleine Kanäle stärker wachsen. Deutschsprachige Kanäle mit primär russischer Propaganda mit weniger als 20.000 Subscribern wachsen durchschnittlich um 6,7 Prozent und jene mit mehr als 20.000 Subscribern um 3,3 Prozent. Übertroffen werden sie noch von russischsprachigen Kanälen, die international um 10,3 Prozent stärker rezipiert werden. Auch erfahren Kanäle aus dem Reichsbürger-Milieu größere Aufmerksamkeit, was mit den Medienberichten zu den im Dezember aufgeflogenen Putschpläne zusammenhängen dürfte.
Weiterhin sehen wir einen sich fortsetzenden Abwärtstrend bei Querdenken- und Corona-Desinformation-Kanälen, was der sinkenden Relevanz der Themen im Kontext der abklingenden Pandemie geschuldet sein dürfte. In der Kategorie der Kanäle mit der größten Subscriberzahl wiederum hat sich erwartungsgemäß wenig geändert; sie weisen eben einen hohen Sättigungsgrad auf. Verschwörungsideologische Medienkanäle und Influencer insgesamt haben mit Abstand das größte Publikum. Unter den Kanälen, die am stärksten hinzugewinnen konnten, waren überraschenderweise viele QAnon-Gruppen mit mittelgroßer Reichweite. Deutliche Verluste mussten der Demokratische Widerstand sowie verschiedene regionale Querdenken-Gruppen hinnehmen.20 Ersterer nutzte den Kanal für eine Werbeaktion für die deutsche Übersetzung eines französischen Protestpamphlets, das Verschwörungstheorien rund um die Pandemie unterfüttert. Über 4.000 der 15.000 Subscriber sprangen daraufhin ab. Auch lässt das Interesse an Kryptowährungen merklich nach. Deutschsprachige russische Propagandakanäle wie Putin Fanclub oder Donbass Krieg erhielten stetes Wachstum um mehrere tausend Abonnements im vergangenen Quartal.
Treibeis auf Telegram: Viral gehende Posts
Welche konkreten Inhalte gingen in den vergangenen drei Monaten auf Telegram viral? Um hierzu Aussagen zu treffen, schauen wir auf die Viewzahlen der zehn meistgesehenen Posts pro Ideologie. Hier haben jene Akteure die Nase vorn, die sich bereits eine große Anhängerschaft aufgebaut haben. Zugleich gibt es aber auch viele große Kanäle, die keine großen Reichweiten erzielen wie (wiederholt) Boris Reitschuster. Reitschuster wurde seit Ausbruch des Krieges weit seltener geteilt und verlor an Einfluss. Ganz anders sieht es bei mittlerweile etablierten Alternativmedien aus: Der Online-Sender AUF1, der mit Verschwörungs-Clickbait sein Geld verdient und auf vielen Demonstrationen zugegen ist, besitzt mit die größte Reichweite. Ein besonders viral gegangener Post war Teil einer Kampagne gegen die ARD, die AUF1 vor dem österreichischen Patentamt verklagte: die Ähnlichkeit beider Logos könnte zu Verwechslungen führen. Stefan Magnet, Leiter von AUF1, sah darin einen Angriff auf die Existenz des Senders und hantierte mit falschen Behauptungen.21 Die Panikmache löste viel Solidarität im Telegram-Kosmos aus.
Heraus sticht außerdem ein Post des Querdenken-Anwalts Markus Haintz, der den Verschwörungsideologen Oliver Janich vertritt. Janich, der lange Zeit aus seinem philippinischen Exil hetzte und mutmaßlich strafbare Inhalte teilte, wurde unter der kritischen Begleitung etlicher Telegram-Kanäle im vergangenen August festgenommen und schließlich diesen Januar wieder aus dem Abschiebegefängnis entlassen. Die Nachricht seines Anwalts löste große Euphorie aus und zeigt – wie im Beispiel zuvor –, dass die Thematisierung von (vermeintlicher) Repression besonders viel emotionale Interaktion auslöst. Was jenseits dieser Posts aber auch deutlich wird, ist ein esoterischer Boom auf Telegram, in dessen Sog ein Post zu Körperelektrizität zu den meistgesehenen Nachrichten auf Telegram wurde. Insgesamt bieten die Snapshots nur einen oberflächlichen Einblick in die metrischen Trends. In Kombination mit viralen Nachrichten aus anderen Milieus setzt sich aber ein Bild relevanter Diskurse zusammen, die ob ihrer großen Reichweite auch spektrenübergreifend Bedeutung und somit Potenzial für Kampagnen haben.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Winter 2023: Ein bisschen Frieden, ein bisschen Schäumen«, in: Machine Against the Rage, Nr. 2, Frühling 2023, DOI: 10.58668/matr/02.1.
Verantwortlich: Hendrik Bitzmann, Harald Sick, Maik Fielitz, Holger Marcks.
Für tiefere Einblicke in die Netzwerk- und Themenentwicklungen kann unser Prototyp von D-REX+ besucht werden, unser Datenthesaurus zu Rechtsextremismus & Co. im Netz.
- Siehe z.B. Olaf Sundermeyer, »Wagenknecht-Demo in Berlin: Die Querfront steht«, auf: RBB, 25. Feb. 2023, online hier.
- Siehe dazu den Radar der letzten Ausgabe.
- Siehe den Fokus der letzten Ausgabe.
- Siehe den Fokus der vorletzten Ausgabe.
- Vgl. »Radikalisierungstrend der Corona-Jahre gestoppt«, Pressemitteilung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, 28. Feb. 2023, online hier.
- Siehe z.B. MONITOR studioM, »Stärkt Wagenknecht die Rechtsextremen?«, auf: ARD Mediathek, 10. Okt. 2023, online hier.
- Das Manifest wurde am 10. Feb. in Form einer Petition veröffentlicht, mit einer heterogenen Liste von Erstunterzeichner*innen aus verschiedenen politischen Milieus. Über 775.000 Unterschriften konnte es schließlich erlangen. Zentrales Kampagnenziel war eine Großdemonstration am Brandenburger Tor, die die Geburtsstunde einer neuen Friedensbewegung werden sollte.
- @Tino_Chrupalla, | 10. Feb. 2023 | 14:16.
- Punkt.PRERADOVIC, »›Wir müssen einen Atomkrieg verhindern‹ – Punkt.PRERADOVIC mit Oskar Lafontaine«, auf: YouTube, 16. Feb. 2023, online hier.
- So im Interview mit Susanne Beyer & Timo Lehmann, »Was, wenn Rechtsextreme mit Ihnen protestieren? – ›Jeder ist willkommen, der für Frieden demonstrieren möchte‹. Schwarzer und Wagenknecht verteidigen ›Friedenskundgebung‹«, in: Spiegel, 16. Feb. 2023, online hier.
- Siehe den Fokus dieser Ausgabe.
- Siehe Michael Klarmann, »Ostermärsche: Querfront ante portas?«, auf: Endstation Rechts, 11. Apr. 2023, online hier.
- Siehe methodischer Annex. Vgl. dazu auch den Fokus der letzten Ausgabe.
- Siehe Michael Klarmann, »Das ›Compact-Magazin‹: ›Ami-go-Home-Großdemo‹ und Kampagnen-Journalismus«, auf: Endstation Rechts, 24. Nov. 2022, online hier.
- Siehe dazu Polina Nikolskaya u.a., »Pro-Putin Operatives in Germany Work to Turn Berlin against Ukraine«, auf: Reuters, 3. Jan. 2023, online hier.
- In den bisherigen Ausgaben haben wir auch relevante internationale Kanäle mit abgebildet. Wir haben uns für diese Ausgabe entschieden, das Netzwerk auf deutschsprachige Accounts zu beschränken, um etwaige Verzerrungen durch sprachliche und regionale Unterschiede zu reduzieren. Für mehr Informationen siehe den methodischen Annex.
- Die Themenberechnung erfolgt über den Einbezug von über zehn Millionen Nachrichten. Für die folgenden Darstellungen wurden allerdings Nachrichten aus Chatgruppen und von ideologisch nicht eingeordneten Akteuren ausgeblendet.
- Die Erweiterung der beobachteten Kanäle führt zu leicht veränderten Modellen zwischen den Ausgaben des Trendreports. Die Modelle können daher nicht zwischen verschiedenen Trendreports direkt verglichen werden. Daher wird das Modell stets für den betrachteten Zeitraum plus ein Jahr trainiert, um valide Aussagen über die Themenentwicklungen zu ermöglichen.
- Mit den »Twitter Files« legte Twitter-Chef Elon Musk eine direkte Beeinflussung der Regierung von Twitter nahe und stützte damit die weitverbreitete Verschwörungstheorie von einem »Deep State«.
- Mit dem Demokratischen Widerstand setzen wir uns genauer im Fokus auseinander.
- Siehe @ZappMM | 1. Dez. 2022 | 13:40.