Glossar

B

Black Box: Als Black Box lässt sich ein System verstehen, dessen Funktionsweise nach außen hin abgeschottet ist. Es lassen sich Inputs und Outputs beobachten, aber es bleibt unklar, welche Mechanismen genau für die Verarbeitung im System verantwortlich sind.

Burgfrieden: Als Burgfrieden wird die Aussetzung der innenpolitischen Streitigkeiten, einschließlich der sozialen Konflikte, während des Ersten Weltkriegs bezeichnet. In Deutschland wird damit insbesondere die Einreihung der damals noch marxistisch geprägten Sozialdemokratie – sowohl der Partei (SPD) als auch der mit ihr verwobenen (freien) Gewerkschaften – in eine nationale Front verbunden. Das französische Gegenstück dazu war die union sacrée, die allerdings stets brüchiger als der deutsche Burgfrieden war, begleitet von Streiks und Soldatenunruhen.

D

Dritter Weg: Der Dritte Weg ist eine neonationalsozialistische Bewegungspartei, die sich in der Tradition des nationalrevolutionären Aktivismus wähnt. Die Partei sammelt die oft überholten Kameradschaftsstrukturen auf und organisiert sich hierarchisch in Stützpunkten. Die Organisation ist international bestens vernetzt und orientiert sich in ihrem politischen Ansatz an einer starken Straßenpräsenz in Verbindung mit einem (vermeintlich) sozialen Aktivismus, mit dem sie insbesondere junge Menschen an die politische Ideologie des Nationalsozialismus heranführen.

F

Freie Sachsen: Die von dem rechtsextremen Anwalt Martin Kohlmann gegründete Partei entstand im Kontext der Proteste gegen die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung. Sie bietet einen Mobilisierungsrahmen für verschiedene rechte Kräfte in Sachsen. Die Freie Sachsen rufen in hoher Frequenz zu Demonstrationen auf, wobei sie dezidiert auf eine regionale Identität rekurrieren. Aufmerksamkeit bekam die Gruppe durch Forderungen nach einem »Säxit«, aber auch durch besonders radikale Rhetorik und einen professionellen Social-Media-Auftritt. Ableger gründeten sich in anderen Bundesländern.

G

Geist von 1914: Als solcher wie die nationalistische, zum Teil euphorische Stimmung großer Teile der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Ersten Weltkriegs bezeichnet. Demnach sei die Gesellschaft mit Kriegsbeginn im August 1914 zusammengerückt und habe ihren volksgemeinschaftlichen Geist entdeckt (sogenanntes Augusterlebnis). Lange wurde dies historiografisch so dargestellt, als haben sich die Deutschen über alle Grenzen von Klasse und Ideologie hinweg diesem Geist ergeben. Indessen ist allerdings umstritten, wie übergreifend dieser spirituelle Impuls wirklich war. Mit Sicherheit kann aber gesagt werden, dass insbesondere nationalistische Kräfte die gesellschaftliche Stimmung so gedeutet und im Folgenden mystifiziert haben.

I

Identitäre Bewegung: Die Identitäre Bewegung ist eine sich als Jugendbewegung inszenierende Gruppe von Rechtsextremen, die sich ausgehend von Frankreich in mehreren europäischen Ländern etablierte. Sie mobilisiert gegen Islam, Migration und die liberale Demokratie insbesondere über die strategische Nutzung sozialer Medien. Sie entwickelte hierbei ein rechtsextremes Politikmodell, das Online- und Offline-Repertoires miteinander verschränkte und eher über mediales Echo an Bedeutung gewann als über eine breite Basis. Seit 2016 wird sie vom Bundesamt für Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall beobachtet.

K

Korporatismus: Im weitesten Sinne ist damit ein System der Interessenvermittlung zwischen wirtschaftlichen bzw. sozialen Gruppen gemeint, das nicht durch Konflikt, sondern durch Kooperation geprägt ist. Speziell im autoritären Korporatismus faschistischer Prägung realisierte man dies durch Einheitsverbände mit Zwangsmitgliedschaft (z.B. Deutsche Arbeitsfront), die in die Politik der Regime eingebunden wurden – in Italien gar über eine pseudo-parlamentarische Kammer von Wirtschaftsorganisationen. Das Ergebnis war ein Quasi-Ständestaat, in dem der Klassenkampf eingefroren war. Im liberalen Korporatismus sind Elemente dieser Idee abgeschwächt vorhanden, etwa in Form der sogenannten Sozialpartnerschaft. Auch hier sollen Klassenkonflikte hinter nationale Interessen (»Standort«) zurücktreten, ohne sie allerdings zu leugnen. Das Ergebnis ist ein »institutionalisierter Klassenkampf« in Form regulierender Gewerkschafts- und Streikrechte.

Klassifikator: Ein Classifier oder Klassifikator beschreibt einen Algorithmus aus der Klasse des maschinellen Lernens, welcher eine Eingangsmenge von Daten in verschiedene Kategorien einteilt. Es wird unterschieden in überwachtes und unüberwachtes Lernen des Klassifikators (engl. supervised/unsupervised). Beim überwachten Lernen ist die Zielgröße der Eingangsdaten bekannt, wie bei unserem Classifier für die Protestaufrufe. Dies erfordert das Kodieren einer Datenmenge für das Training des Classifiers. Beim unüberwachten Lernen sind die Klassen zunächst unbekannt und der Algorithmus erlernt generelle Muster in den Daten. Diese können im Anschluss interpretiert werden. Mit dieser Methode wurde das Themenmodell erlernt.

M

Milieumanager: In der Rechtsextremismusforschung spricht man von Bewegungsunternehmern, die in der Bewegung die Zügel zusammenhalten und übergreifend finanzielle und ideelle Ressourcen aufwenden, um Kader auszubilden und Wissen weiterzugeben. In einem stärker unstrukturierten und über digitale Auftritte zusammengehaltenen Milieu, wie wir es heute vorfinden, bilden sich aus dem Wust von Kanälen autoritative Personen heraus, die einen erheblichen Einfluss auf das Feld ausüben, indem sie andere unterstützen und/oder gemeinsam Kampagnen aufziehen. Ein Beispiel für solche Milieumanager ist der Verschwörungsideologe Oliver Janich.

N

Nationalbolschewismus: Der Nationalbolschewismus speiste sich nicht nur aus nationalistischen KPDlern, sondern umfasst auch rechte Konservative, wie z.B. Ernst Niekisch, die in der bolschewistischen Einparteienherrschaft ein Vorbild sahen, um – entgegen marxistischer Vorstellungen – den Klassenkampf zugunsten einer nationalen Gemeinschaft aufzulösen. Insofern handelt es sich bei Teilen dieses Phänomens nicht mal um nominelle Kommunisten, sondern eher um Nationalrevolutionäre. Ferner wird der Begriff auch mit der kurzzeitig nationalistisch angehauchten Programmatik der KPD von 1923 (der. sog. Schlageter-Kurs) in Verbindung gebracht, dessen Einordnung sich allerdings schwieriger gestaltet.

NPD: Die NPD ist die älteste rechtsextreme Partei in der Bundesrepublik, die in ihren knapp sechs Jahrzehnten der politischen Agitation sich als ein zentraler Anker für rechtsextremen Aktivismus etabliert hat. Ende der 2000er Jahre zog die NPD in mehrere Landtage ein, trotz der offenen Verherrlichung des Nationalsozialismus von einem großen Teil der Partei. Wiederholt wurde versucht, die Partei zu verbieten, was jedoch misslang. Seit dem Aufstieg der AfD hat die NPD ihre regionale Stärke einbüßen müssen und ist nun weitgehend abgeschlagen im rechten Mosaik.

O

Ordnungssicherheit: So bezeichnete der Soziologe Heinrich Popitz »eine gewisse Verläßlichkeit der eigenen Orientierung innerhalb der bestehenden Ordnung, eine gewisse Voraussicht der zu erwartenden Reaktionen«. Die Beteiligten wissen also, woran sie sind; sie kennen in etwa die Konsequenzen etwaiger Handlungsentscheidungen, so dass eine kollektive Konformität Form annimmt, auch wenn die Ordnung eine ungerechte ist. Das Konzept lässt sich auch auf die internationalen Beziehungen übertragen, wo stets nach bestimmten Regeln gespielt wird, so fehlerhaft die Beteiligten die Ordnung auch empfinden mögen. Werden wichtige Akteure aber unberechenbar, erodiert der Glauben an bisherige (diplomatische) Praxen.

Outdegree und Indegree: Unter Outdegree versteht man die Anzahl der ausgehenden Verbindungen von einem Knoten. Bei unseren Kommunikationsnetzwerken auf Telegram kann man daran ablesen, wie viele Akteure den Kanal teilen. Analog definiert sich der Indegree, nur dass wir hier von eingehenden Verbindungen sprechen. Um beim Telegram-Beispiel zu bleiben, wäre das dann die Anzahl an anderen Akteuren, die unser Knoten teilt.

R

Retweetnetzwerke: Retweetnetzwerke stellen eine Interaktionsform auf Twitter dar. Die Twitter-Nutzer*innen bekommen eine Verbindung, wenn sie Inhalte voneinander durch Retweeten teilen. Hieraus kann man durchaus eine inhaltliche Affirmation ableiten, da sich die Gepflogenheit etabliert hat, Nachrichten aus dem gegnerischen politischen Lager lediglich mittels Screenshot zu teilen, um diesen keine größere Reichweite zu verschaffen.

S

Situationsdefinition: Als Situationsdefinition bezeichnet man die Wahrnehmung einer Lage durch handelnde Akteure. Diese stellen stets eine Art Diagnose darüber an, wie die Welt bzw. ein Ausschnitt von ihr beschaffen ist. Dazu zählt zunächst einmal eine Deutung der Umstände, aber auch der Verhältnisse, einschließlich von Annahmen, welche Reaktionen auf bestimmte Aktionen zu erwarten sind. Dem sogenannten Thomas-Theorem zufolge leitet sich daraus das Handeln jeweiliger Akteure ab. In diesem Sinne sind dann auch Situationsdefinitionen realitätsbildend. Denn wenn Menschen, so das Theorem, Situationen als wirklich definieren, seien diese in ihren Konsequenzen wirklich.

T

Third Position: Eine nationalrevolutionäre Spielart des Neofaschismus, die in ihren unverblümt antikapitalistischen Formen für eine radikal neue Weltordnung einsteht, in der insbesondere die Dominanz des angenommenen Wirtschafts-, Kultur- und Militärimperialismus der USA gebrochen wird. Sie strebt eine Neuausrichtung der internationalen Beziehungen an und unterstützt blockfreie Ländern, wenn sie sich im Konflikt mit den USA oder der ehemaligen Sowjetunion befinden.

V

Verantwortungs- und Gessinungsethik: Unter diesem Begriffspaar ist eine idealtypische Unterscheidung des Soziologen Max Weber zu verstehen. Theoretisch nicht sonderlich ausbuchstabiert, soll dieses Konzept zwei differente Handlungslogiken benennen: einerseits jene, die die Konsequenzen des eigenen Handelns in die Reflexion der Praxis einbezieht – und andererseits jene, die die Praxis daran misst, ob sie die moralischen Prinzipen der eigenen Gesinnung widerspiegelt. Der Begriff der Verantwortung bezieht sich bei Weber explizit darauf, ob Akteure in der Lage sind, sich selbst als Teil komplexer Konfliktdynamiken zu begreifen, in der das eigene Handeln negativ auf die eigenen Ziele zurückwirken kann.