Herbst 2022: Reichsbürgerstreich statt Volksaufstand
Was passiert im demokratiefeindlichen Lager? In der Rubrik Radar geben wir Einblicke in unser datenbasiertes Telegram-Monitoring und analysieren, welche Trends sich in den vorangegangenen Monaten feststellen lassen. Hinzu kommen nun erste Twitter-Daten, mit denen wir an unsere Untersuchungen zur »Winterwut« anschließen. Außerdem blicken wir in dieser Ausgabe, nach den Anfang Dezember aufgedeckten Putschplänen aus dem Milieu der Reichsbürger, auf deren Positionierung im breiteren demokratiefeindlichen Spektrum. Als neues, fortlaufendes Feature führen wir im Radar einen Überblick zu metrischen Trends in der demokratiefeindlichen Kommunikation ein.
Der Herbst 2022 sollte heiß werden. In Erwartung einer Energiekrise rieben sich Medienberichten zufolge demokratiefeindliche Kräfte die Hände und hofften auf die aus der Politik befürchteten Unruhen, sogar von Volksaufständen zum Winter hin war die Rede. Sie blieben vorerst aus. Dass die Mobilisierung unter dem erwarteten Niveau blieb, zeigt nicht nur unsere Analyse im Fokus. Auch in rechtsextremen Debatten kommt Enttäuschung zum Ausdruck, dass eine bundesweite Kampagne nicht auf die Beine gestellt werden konnte; es seien Ermüdungserscheinungen in den angesprochenen Milieus feststellbar.1 Der Verfassungsschutz kommt dementsprechend auch zu dem Ergebnis, dass bloß ein »laues Lüftchen« durch den Herbst blies,2 entgegen den eigenen Prognosen.3 Die zum Teil fatalistischen Vorhersagen waren also weitgehend entkoppelt von der realen Stärke rechter Systemgegner*innen. Gleichwohl gehen die Gefahren für die Demokratie nicht nur von der Straße aus, wie die Aufdeckung eines geplanten Putsches aus dem Reichsbürger-Milieu Anfang Dezember 2022 zeigt. Neben den allgemeinen Entwicklungen im demokratiefeindlichen Spektrum wirft der Radar in dieser Ausgabe daher einen Blick auf die Online-Netzwerke jenes Milieus.
Was bisher geschah: Von der Zeitenwende zum kalten Herbst
Im Radar unserer Pilotausgabe haben wir uns im Allgemeinen dem Weiterleitungsverhalten von demokratiefeindlichen Akteuren auf Telegram und den daraus ableitbaren Kommunikationsnetzwerken gewidmet. Im Speziellen haben wir analysiert, wie sich diese Netzwerke im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine verhalten haben. Dabei konnten wir zeigen, dass trotz eines hohen Vernetzungsgrades, den die verschiedenen Milieus untereinander haben, sich durchaus unterschiedliche Haltungen zum Krieg in der Ukraine herausgebildet haben und russische Propaganda unterschiedlich aufgenommen wurde. Auffälligerweise fanden sich viele pro-russische Narrative bei Kanälen aus dem Querdenken– und dem QAnon-Milieu, wohingegen die Neue Rechte solche Inhalte kaum bis gar nicht weiterleitete. Dennoch fand das Spektrum mit dem Thema der Energiekrise einen gemeinsamen Rahmen, was sich in den Versuchen der Mobilisierung für einen »heißen Herbst« niederschlug, der in einen »Wutwinter« münden sollte: Schlagworte, die geradezu popularisiert wurden – auch unter Mitwirkung von Politik und Medien.4
Interessant an dieser Kampagne war, dass sie nie wirklich Fahrt aufnehmen konnte – und trotzdem die Erzählung von einem bevorstehenden »Wutwinter« eine beachtliche mediale Tragweite erlangte. Hinweise auf die Mechanismen dieses Hypes gibt uns die Auswertung relevanter Hashtags auf der Plattform Twitter, die generell als zentrales Forum für wichtige, medienrelevante Debatten und mitunter auch als Spiegel der medialen Öffentlichkeit fungiert. Auch zu diesem Thema wurden dort viele Diskussionen geführt. Um deren Treiber einordnen zu können, haben wir alle Tweets zu den Hashtags #heisserherbst und #wutwinter heruntergeladen und sogenannte Retweetnetzwerke generiert.5 Diese lassen uns schlussfolgern, dass sich rechtsextreme Influencer und rechtslibertäre Accounts auf Twitter zwar viel zum Thema geäußert haben, im Großen und Ganzen aber keine eigene Strahlkraft besaßen. Einen größeren Anziehung gab es lediglich zwischen AfD-nahen Accounts und dem Wagenknecht-Lager, allerdings war das Weiterleitungsverhalten recht einseitig: Erstere retweeten dabei Inhalte von Letzteren. Daneben bestehen eigene Diskurs von journalistischer und zivilgesellschaftlicher Seite, die kritisch auf mögliche Proteste von rechts blickten – und so dazu beitrugen, dass viel über einen Wutwinter geredet wurde, noch bevor ein heißer Herbst überhaupt Gestalt annahm.
Wer mit wem kommuniziert: Demokratiefeindliche Netzwerke auf Telegram
Im letzten Radar haben wir Daten von Juli 2021 bis August 2022 ausgewertet. Wie wir dabei feststellen konnten, haben wir es mit einem sehr eng verbundenen Netzwerk von demokratiefeindlichen Akteuren auf Telegram zu tun. Dieser Eindruck lässt sich auch durch die hier fortgesetzte Analyse unterstreichen, in der wir Daten im Zeitraum von September bis November 2022 ausgewertet haben.6
Die Dichte der Kommunikationsnetzwerke nimmt von September bis November 2022 zwar leicht ab, bleibt aber weiterhin auf sehr hohem Niveau. Wie in der Netzwerkdarstellung zu sehen, sind alle Akteure eng vernetzt und teilen weiterhin rege Inhalte untereinander – auch über ideologische Grenzen hinweg. Außerdem lassen sich keine klar abgrenzbaren und sich abgrenzende Cluster feststellen. Lediglich ein kleinerer Auswuchs unten am Hauptcluster fällt auf, der vor allem mit Akteuren aus dem rechtsextremen Spektrum besetzt ist. Links sehen wir in der Peripherie eine Reihe fremdsprachiger Akteure, die über unser Snowballsampling in die Auswahl kamen, aufgrund der sprachlichen Barriere allerdings weniger stark mit dem Hauptcluster verbunden sind. Die Kanäle von Querdenker*innen und rechtsextremen Akteuren bleiben im betreffenden Untersuchungszeitraum erkennbar eher unter sich – sie teilen also vorwiegend Inhalte aus dem eigenen Milieu und interagieren eher weniger mit anderen Akteuren.
Während im Frühjahr 2022 Querdenken-Kanäle bei der Verbreitung von pro-russischer Propaganda besonders hervorstechen, leiten nun Anhänger*innen von Verschwörungsideologien signifikant häufig russische Propaganda weiter. Dies gilt insbesondere für QAnon-Kanäle, deren Inhalte im gesamten verschwörungsaffinen Lager Anklang finden. Dass rechtsextreme Accounts Nachrichten aus russischen Propagandakanälen weiterleiten, ist eher unwahrscheinlich. Das heißt aber nicht, dass über sie keine pro-russische Propaganda verbreitet wird. Allerdings tun sie dies mit großer Wahrscheinlichkeit nicht aufgrund ideologischer Nähe, wie unsere Modelle zeigen, sondern eher basierend auf endogenen Praktiken. Anhand der absoluten Zahlen des Weiterleitungsverhalten, das für die von uns beobachteten Telegram-Kanäle charakteristisch ist, lässt sich für alle Milieus feststellen, dass die meisten Nachrichten aus der eigenen ideologischen Umgebung geteilt werden. Doch gibt es durchaus frappante Unterschiede dabei, wie Nachrichten zwischen den verschiedenen Milieus verbreitet werden. Neurechte etwa sind stark zurückhaltend beim Teilen von Nachrichten aus anderen Milieus, wohingegen verschwörungsideologische Kanäle recht willkürlich in ihrem Weiterleitungsverhalten wirken. Generell teilen alle Subgruppen aber wenig von den russischen Propaganda-Kanälen.
Worüber kommuniziert wird: Themen und ihre Karrieren
Der Wandel von Themen und Narrativen im demokratiefeindlichen Spektrum vollzieht sich vor dem Hintergrund einer beschleunigten Veränderung im Weltgeschehen. Wir untersuchen daher möglichst in Echtzeit, welche diskursiven Muster sich wie im größeren Maßstab formieren, aber auch, wie sich diese langfristig entwickeln. Zu diesem Zweck haben wir mithilfe eines Topic-Modelling-Verfahrens 120 Themen berechnet, die auf Basis von Worthäufigkeiten und -verteilungen gebildet werden. Dabei ist zu beachten, dass maschinelle Kriterien zur Erfassung von Themen nicht immer deckungsgleich mit dem sind, was wir alltagssprachlich unter Themen verstehen. Die resultierenden Themen bilden daher unterschiedliche Abstraktionsgrade, Trennschärfen und thematische oder auch sprachliche Kohärenzen ab.7 Für die vergleichende Betrachtung haben wir relevante Themen auf drei Ebenen aggregiert und inhaltlich nicht interpretierbare oder isolierte Themen dem Bereich Sonstiges zugeordnet. Das Themenmodell dient der Übersicht und hilft zu verstehen, wo die thematischen Schwerpunkte der verschiedenen Milieus liegen. Der Zeitraum der Themenerkennung erstreckt sich dabei stets über den Verlauf der vergangenen 15 Monate.
Corona bleibt ein wichtiges Thema, über das in allen Milieus diskutiert wird. Es hat aber deutlich an Bedeutung im Vergleich zum Vorjahr eingebüßt, wodurch andere Themen wie deutsche (Parteien-)Politik mehr Raum bekamen. Interessanterweise durchlaufen die Themen eine parallele Entwicklung in den verschiedenen Milieus – mit Ausnahme der tendenziell monothematischen Kanäle (Esoterik, Corona-Desinformation, pro-russische Propaganda). Dies zeigt, dass ein Großteil der Kanäle der diskursiven Konjunktur des Netzwerkes folgt. Beim Abgleich der Themenentwicklung mit realen Ereignissen lässt sich eine starke thematische Orientierung des Netzwerkdiskurses an dem Mainstreamdiskurs erkennen. (Ukraine, internationaler Protest). So wurde der Krieg in der Ukraine in allen Milieus ein wichtiges Thema, insbesondere zum Kriegsbeginn mit seiner intensiven medialen Berichterstattung. Neben den Gemeinsamkeiten fallen aber auch deutliche Unterschiede bei den thematischen Schwerpunkten auf. So ist die Relevanz des Corona-Themas im neurechten Milieu weit geringer als etwa bei Querdenken-Kanälen. Hingegen ist das Thema Migration bei der Neuen Rechten stärker im Fokus, während die Reichsbürger, auf die wir noch gesondert zu sprechen kommen, am häufigsten Nachrichten posten, die den Staat delegitimieren.
Exkurs: Die Positionierung der Reichsbürger im Telegram-Kosmos
Eine Akteursgruppe, die jüngst besonders im öffentlichen Fokus stand, ist die der Reichsbürger. Ein geplanter Staatsstreich aus ihren Reihen wurde infolge von Razzien und Festnahmen Anfang Dezember 2022 medienwirksam durch die Sicherheitsbehörden aufgedeckt. Die ideologische Verortung der Reichsbürger ist generell umstritten.8 Der Verfassungsschutz etwa ordnet von 21.000 identifizierten Reichsbürgern und Selbstverwaltern nur 1.250 dem Rechtsextremismus zu.9 Gemein ist Reichsbürgern und Selbstverwaltern die Lossagung von staatlichen Strukturen oder die Verweigerung von Steuerzahlungen. Unterscheiden lassen sich die Subgruppen dieses Milieus in ihrem Verhältnis zur deutschen Geschichte und dem Nationalsozialismus sowie in Fragen der strategischen Ausrichtung. Radikale Reichsbürger sehen das Deutsche Reich weiterhin als einzig legitime Staatsform, die es durch Umsturz wiederzubeleben gelte, wohingegen Selbstverwalter sich eher zurückziehen und aus politischen Fragen heraushalten. Was das Weiterleitungsverhalten betrifft, so zeigt sich, dass Reichsbürger deutlich mehr von anderen Gruppen teilen, als dass sie geteilt werden (siehe Grafik oben). Hieraus können wir vorsichtig schließen, dass der Einfluss der Reichsbürger auf Telegram über ihr Milieu hinaus nicht besonders groß ist.
Im Kontext der Corona-Proteste erhielten Reichsbürger Zulauf und schmiedeten Bündnisse mit Verschwörungsgläubigen. Die Reichsfahne, die von Reichsbürgern und Rechtsextremen genutzt wird, wurde auf den Querdenken-Demos weithin akzeptiert; führende Querdenker-Köpfe sympathisieren mit ihrer Ideologie.10 Reichsbürger waren auf den Querdenken-Demos vertreten und über die zahlreichen digitalen Auftritte konnten sich viele Menschen mit ihrer Ideologie vertraut machen. Auch sind deutliche Überlappungen mit dem QAnon-Verschwörungskult erkennbar. So integrieren Reichsbürger gerne entsprechende talking points, aber auch QAnon-Anhänger*innen nehmen Reichsbürger-Ideologeme auf.11 Überraschend ist diese Nähe nicht, da die Delegitimierung des Staates und die Vorstellung konspirierender Eliten in beiden Ideologien verfängt. Mit Blick auf die 33 von uns beobachteten Reichsbürger-Kanäle fällt auf, dass Nachrichten am häufigsten aus dem verschwörungsideologischen Milieu und hier insbesondere von QAnon-Anhänger*innen weitergeleitet wurden: eine Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht. Durchaus lassen sich aber Unterschiede zwischen der Themensetzung bei Reichsbürger- und QAnon-Kanälen feststellen. So werden Narrative eines »tiefen Staates« relativ selten von Reichsbürgern geteilt,12 wohingegen beide Spektren hohe Werte in der Delegitimierung staatlicher Institutionen in Deutschland aufweisen.
Die Spitze des Eisbergs: Metrische Trends im Herbst 2022
Aus den zahllosen Nachrichten, die unser Monitoring erfasst, lassen sich Trends ableiten, mit denen sich weitere Entwicklungen in digitalen Räumen potentiell antizipieren lassen. Im Radar bieten wir daher nun regelmäßig eine metrische Perspektive auf das untersuchte politische Spektrum. Hierfür schauen wir zuerst auf die Entwicklung der Subscriber in den ideologischen Milieus. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, von wem neue Impulse zu erwarten sind und wer eher um seine Position kämpfen muss. Dabei unterscheiden wir kleine und große Kanäle (ab 20.000 Subscriber), um Trends von etablierten und aufstrebenden Akteuren unterscheiden zu können. Ältere reichweitenstarke Kanäle haben etwa ein anderes Entwicklungsmuster, weil sie häufig die Grenzen ihrer Reichweite erreicht haben. Das erklärt auch, warum bei den Etablierten einzig pro-russische Propaganda zuletzt einen starken Zuwachs erlebte, tat sich hier doch ein neues Agitationsfeld auf, das noch nicht so gesättigt war. Für die meisten größeren Akteure ist hingegen das Telegram-Momentum passé, wenn sie sich nicht gar nach Streitereien aufgelöst haben. Aufstrebend sind vor allem mittelgroße Kanäle aus dem Milieu der Reichsbürger und der Neuen Rechten, während Querdenken-Kanäle Verluste hinnehmen mussten.
Eine Ebene tiefer haben wir uns angesehen, welche Kanäle in den jeweiligen Milieus an Reichweite gewinnen bzw. an Zuspruch verlieren. Generell fällt dabei auf, dass Alternativmedien eine große Reichweite entfalten, insofern sie vier der fünf größten Kanäle umfassen, die wir beobachten. Offenbar scheinen sich ihre Investitionen in digitale Verbreitungswege auszuzahlen. Starken Zuwachs erfahren vor allem Individuen, die zuletzt in der Öffentlichkeit präsenter waren, wie etwa der selbsternannte Exil-Kanzler Ralph T. Niemeyer, der Islamhasser Michael Stürzenberger oder der Corona-Scheinexperte Tom Lausen, der für die AfD einen fragwürdigen Bericht zu Impfschäden veröffentlichte. Auch fällt auf, dass sich die Kanäle neurechter Magazine wachsender Beliebtheit erfreuen, seit sie Telegram nun frequenter und professioneller bespielen. Feststellen lässt sich ferner, dass der im verschwörungsideologischen Milieu beliebte »Terminkalender«, in dem massenhaft zu Demotermine kommuniziert werden, einen deutlichen Einbruch erlitt, was ein Indiz für Abklingen des Mobilisierungspotentials in diesem Milieu sein könnte. Dennoch zeigt sich in diesem Milieu eine besonders hohe Kommentierbereitschaft. Bei stichprobenartigen Heranzoomen fällt auf, dass es sich hier weniger um strukturierte Diskurse als um zusammenhanglose Wortmeldungen handelt.
Treibeis auf Telegram: Viral gehende Posts
Schließlich interessierte uns, welche konkreten Posts eine Viralität auf Telegram entfalten konnten. Wenig überraschend kommen viele der reichweitenstärksten Nachrichten von den Accounts mit den meisten Subscribern. Einer dieser Accounts ist der Alternativsender AUF1, der zu einem sich zu Knotenpunkt zwischen rechtsextremer und verschwörungsideologischer Kommunikation etabliert hat. Der Kanal versendete den Post mit den meisten Impressionen im vergangenen Quartal, und zwar mit fragwürdigen Aussagen zu Covid-Antigentests. Besonders aufschlussreich können Posts sein, welche gemessen an ihrer geringen Subscriber-Anzahl besonders hohe Klickzahlen erreichten. In dieser Kategorie fallen auch vereinzelt Nachrichten zum Thema »heißer Herbst« und »Wutwinter« auf. Heraus sticht zudem ein Post von einem pro-russischen Propagandakanal (deutscherussischeheimat), der auf Energieproteste in der Tschechischen Republik hinwies und einen Vorgeschmack auf den »Wutwinter« geben sollte. Dieser Post erreichte eine Leser*innenschaft, die fast 700 mal größer war als die eigene Subscriber-Zahl. Weitere Posts, die viel Aufmerksamkeit generierten, sind Solidaritätsbotschaften mit dem verschwörungsideologischen Mileumanager Oliver Janich, der im August 2022 festgenommen wurde und seitdem in Haft sitzt, sowie dem Querdenken-Gründer Michael Ballweg, dem dasselbe Schicksal erlitt. Auch esoterische Posts erreichen durchaus beachtliche Reichweiten.
Die Daten helfen uns zu verstehen, wo es sich lohnt, genauer hinzusehen. Allerdings können sie auch trügerisch sein. Denn wie auch auf anderen Plattformen sehen wir auf Telegram, dass sich eine gewisse Form der Kommunikation und Sozialisierung durchsetzt, bei der sich das Posting-Verhalten über Ideologien hinweg angleicht. Telegram als nicht algorithmisch kuratiertes Medium ist auf Aggregation und spontane Weiterleitung ausgerichtet. Es lebt von Schnelllebigkeit und Iteration. Die als Push-Nachrichten konsumierten Posts erhalten meist nur eine große Zahl von Views, wenn abonnierte reichweitenstarke Accounts sie weiterleiten – im Gegensatz zu typischen sozialen Medien, wo Algorithmen die »Newsworthiness« errechnen. Accounts, die ein großes Publikum wollen, müssen daher eine gute Kontaktpflege im nahen Umfeld vornehmen. Denn Kanäle, die nur die Links der eigenen Webseite dokumentieren, werden vergleichsweise wenig geteilt. So kommt es auch, dass wichtige Akteure wie Boris Reitschuster oder das Compact Magazin keine viralen Posts absetzen: Ihre Accounts sind auf reine Self-Promotion ausgerichtet. Das heißt nicht, dass die Accountinhaber*innen bedeutungslos sind. In einer zunehmend auf Quantifizierung ausgerichteten digitalen Öffentlichkeit können aber virale Nachrichten über Telegram die Selbst- und Fremdwahrnehmung von politischen Akteuren stark beeinflussen.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Herbst 2022: Reichsbürgerstreich statt Volksaufstand«, in: Machine Against the Rage, Nr. 1, Winter 2023, DOI: 10.58668/matr/01.1.
Verantwortlich: Harald Sick, Hendrik Bitzmann, Maik Fielitz, Holger Marcks.
Für tiefere Einblicke in die Netzwerk- und Themenentwicklungen kann unser Prototyp von D-REX+ besucht werden, unser Datenthesaurus zu Rechtsextremismus & Co. im Netz.
- Siehe z.B. Ein Prozent, »100 Folgen ›Lagebesprechung‹ – Jubiläumsfolge mit Philip Stein, Benedikt Kaiser und Jonas Schick«, Lagebesprechung – der Podcast zur politischen Krise, o.D., online hier.
- »Thomas Haldenwang über Proteste in Ostdeutschland: ›Heißer Herbst‹ nur ›laues Lüftchen‹«, in: Spiegel, 28. Dez. 2022, online hier.
- »Verfassungsschutz: Rechtsextreme schüren Ängste für einen ›heißen Herbst‹ 2022«, in: Die Welt, 18. Aug. 2022, online hier.
- Siehe dazu den Fokus der letzten Ausgabe.
- Die Twitter-Nutzer*innen bekommen eine Verbindung, wenn sie Inhalte voneinander durch Retweeten teilen. Hieraus kann man durchaus eine inhaltliche Affirmation ableiten, da sich die Gepflogenheit etabliert hat, Nachrichten aus dem gegnerischen politischen Lager lediglich mittels Screenshot zu teilen, um diesen keine größere Reichweite zu verschaffen. Eingefärbt haben wir die Akteure mittels des Louvain Community Detection-Algorithmus – hier also nicht anhand deren Ideologie, sondern ihres Retweet-Verhaltens.
- Für Genaueres siehe den Methodenteil dieser Ausgabe.
- Für weitere Informationen zur Berechnung der Themenmodelle sei auch hier auf unseren methodischen Annex verwiesen.
- Siehe Christoph Koopmann, »Terror-Razzia: Sind alle ›Reichsbürger‹ rechtsextrem?«, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Dez. 2022, online hier.
- Siehe Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2021 (Berlin: Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2022), S. 103.
- Siehe Stefan Tomik & Rüdiger Soldt, »Querdenker und Reichsbürger: Audienz bei König Peter I.«, in: FAZ, 26. Nov. 2020, online hier.
- Siehe CEMAS, Q Vadis? Zur Verbreitung von QAnon im deutschsprachigen Raum (Berlin: CEMAS; 2022), online hier.
- QAnon-Anhänger*innen gehen davon aus, dass es einen Staat im Staate gibt und die Regierung durch informelle oder gar illegale Machtstrukturen gelenkt würde. Diese Vorstellung einer Konspiration von Eliten zeigt deutliche Analogien zu antisemitischen Weltbildern.