Sommer 2022: Wo bitte geht’s zur nächsten Krise?
Was spielte sich zuletzt ab bei demokratiefeindlichen Akteuren im Netz? Diese Frage behandelt der Radar unserer Pilotausgabe, der zugleich in das Herzstück der Forschungsstelle einführt – ein datenbasiertes, computerisiertes System, das sowohl als Echtzeit- als auch Langzeitmonitoring angelegt ist. Dieses setzt auf die Analyse von Netzwerken, Themen, Narrativen und Diskursen, wobei über ein visualisierendes Dashboard Trends in den Konstellationen von Hassnetzwerken abgebildet werden. In diesem Quartal steht dabei die Frage im Vordergrund, wie sich der Ukraine-Krieg auf das Spektrum zwischen Rechtsextremismus und verschwörungsideologischen Akteuren ausgewirkt hat.
Es ist Spätsommer 2022. Pandemie, Krieg und Inflation haben zweifellos Gräben in westliche Gesellschaften gerissen. Weitere Verwerfungen werden aufgrund möglicher Engpässe in der Versorgung mit Strom und Gas befürchtet. Und über allem thront auch noch die Klimafrage. Die Welt ist unruhiger geworden. Dazu tragen nicht zuletzt auch die Stürme auf den digitalen Plattformen bei, die Hass und Hetze wie Treibgut vor sich her schieben. Viele der öffentlichen Debatten der vergangenen Jahre wurden über digitale Plattformen angestimmt und/oder angeheizt. Es gibt kaum ein gesellschaftliches oder politisches Ereignis von Relevanz, das nicht mit erbitterten Online-Auseinandersetzungen einhergeht. Dabei fällt es schwer, den Überblick zu behalten: Wo bilden sich Empörung und Wut heraus? Welche Netzwerke schieben diese Dynamiken an? Und wie wirken sie sich diskursiv aus?
Um hier Antworten geben zu können, benötigt es eine probate Analysesystematik. Denn die Mechanismen des digitalen Diskurses sind komplex, seine Dynamiken oftmals rasant und scheinbar unergründlich. Das treibt Beobachter*innen häufig zu Vereinfachungen, die nicht unbedingt hilfreich sind im Kampf gegen Hass im Netz. Denn um das Bedrohungspotential von Hassakteuren gut einschätzen und wirksame Maßnahmen der Prävention und Eindämmung ergreifen zu können, braucht es nicht nur Wissen über Ideologie und Strategie von Demokratiefeind*innen. Es muss auch mit einem Verständnis davon vereint werden, wie sich Diskursnetzwerke speziell im soziotechnischen Umfeld der digitalen Räume entwickeln. Dieser Anspruch leitet das Monitoring der BAG-Forschungsstelle an, die im »Radar« quartalsmäßig die wichtigsten Entwicklungen in hassrelevanten Netzwerken abzubilden versucht.
Was bisher geschah: Der State of Hate im Jahre Null der BAG
»Hass im Netz« ist ein Dauerthema geworden. Davon zeugen die politischen Bemühungen, dem Netz mehr Regeln zu geben, die diversen Eingriffe der Tech-Unternehmen, mit denen sie die Umtriebe auf ihren Plattformen einzudämmen versuchen, sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die dem digitalen Hass strategisch entgegenwirken. Seit die extreme Rechte global Auftrieb erhalten und mit (terroristischer) Gewalt von sich reden gemacht hat, hat sich auch das Bild vom Internet als partizipativer Raumerweiterung der Demokratie gewandelt. Dass auch Kräfte, die die Demokratie gefährden, von den digitalen Freiheiten profitieren, wurde spätestens seit Donald Trumps politischen Erfolgen zu einer regelrechten Binse. Und auch die Pandemie brachte noch einmal ins Bewusstsein, wie zersetzend die Desinformation von demokratiefeindlichen Akteuren ist, die im digitalen Raum so gut flottieren kann.
Mit dem Ukraine-Krieg brach im Februar dann eine weltpolitische Zäsur herein, die erst einmal Unklarheit schuf, wie es mit dem Spektrum rechtsextremer und verschwörungsideologischer Akteure weitergeht, die über den Pandemie-Konnex in der Querdenken-Bewegung eine Überlappung fanden. Zumal bislang nicht ganz geklärt werden konnte, wie sich diese Akteurstypen genau zueinander verhalten und was dieses doch recht widersprüchliche Patchwork jenseits einer berstenden Eliten- und Systemkritik zusammenhält. Die alten Schablonen, die man lange am Rechtsextremismus anlegte, funktionieren nicht mehr. Denn die Digitalisierung hat auch dieses Phänomen transzendiert, sowohl organisatorisch als auch diskursiv. Eine klare Zuordnung wird immer schwieriger; die Konfliktlinien sind ebenso wie die Akteurslandschaft ständig im Wandel; neue Allianzen scheinen jederzeit möglich.
Länger galt die extreme Rechte als fast schon monothematisch, besessen vor allem von Ausländerhass und Überfremdungsangst. Mit der Pandemie aber änderte sich ihr Themenrepertoire deutlich. An die Stelle des Masternarrativs von Bevölkerungsaustausch und Ausländergewalt trat die Rede von einer Corona-Diktatur, von Impfzwang und einem Great Reset.1 Die Hetze gegen Politiker*innen, Medien und auch Wissenschaftler*innen nahm Fahrt auf. Nicht der äußere, sondern der innere Feind wurde nun zur Hauptzielscheibe, wobei viele den Schulterschluss mit Russland suchten. Diese neuen Narrative knüpften daran an, dass sich alte Gewissheiten in der Gesellschaft aufgelöst haben. Und mit diesem Jahr sind weitere Baustellen der Verunsicherung hinzugekommen. Zugleich aber gilt dies auch für das beschriebene Spektrum selbst. Denn der russische Angriffskrieg brachte auch die Putinfreund*innen in eine Bredouille.
An dieser Zeitmarke startet unser Monitoring, das keine einfache Akteursbeobachtung ist, sondern die diskursiven Netzwerke in den Blick nimmt, über die sich Hassdynamiken im Netz entwickeln. Obwohl nämlich Rechtsextremismus & Co. heute fluider funktionieren, nämlich über digitale Netzwerke und organische Diskurse, die konstitutiv für Phänomene von Wut, Hass und Hetze sind, werden häufig noch die alten Schablonen angewendet, die aus der Zeit stammen, in der sich die extreme Rechte über formal-organisatorische Formen manifestierte. Auch technisch-methodisch gibt es Nachholbedarf. Viele Analysen schauen sich zwar das Vorgehen und die Inhalte relevanter Akteure im Netz an, immer häufiger auch datenbasiert, bleiben aber insofern oberflächlich, als sie ausschnitthaft bleiben; sie laufen Gefahr, größere Zusammenhänge im Erkenntnisprozess auszublenden.
Netzwerke von Rechtsextremismus & Co.: Eine vorläufige Kartographie
Plattformen fungieren stets auch als Metaorganisation, als Netzwerk von Netzwerken, die sich in einem komplexen diskursiven Zusammenspiel (re-)produzieren – und das in ständiger Interaktion mit gegnerischen Akteuren und Diskursen, so dass auch Interventionspraxen co-konstitutiv auf ein politisches Phänomen wirken. Insbesondere in der Vernetzungsdichte der sozialen Medien mit ihren Mechanismen der Aufschaukelung sind eventuelle Dynamiken schwer prognostizierbar. Um empirische Aussagen treffen zu können, wie Informationen wandern und sich zu Narrativen verdichten, bedarf es daher einer Vogelperspektive, die komplexe Netzwerkkonstellationen nachzeichnet – durch computerisierte Methoden, mit denen sich die Datenfülle verarbeiten und abbilden lässt.
Das hierfür von uns entwickelte Monitoring integriert sowohl die Echtzeit- als auch die Langzeitdimension. Zum einen sollen Entwicklungen und Folgen von events direkt sichtbar gemacht werden, um der Beschleunigung politischer Diskurse Rechnung zu tragen. Zum anderen sollen mittelfristig Muster und Mechanismen identifiziert werden, die Prognosen über Effekte von Interventionspraxen zulassen. Im »Radar« stellen wir die Ergebnisse dieses Monitorings vor – einem Daten-Dashboard inklusive. Und zwar als work in progress. Denn sukzessive werden wir dieses Monitoring um weitere Netzwerkebenen und Informationsschichten ergänzen. Damit das Bild möglichst vollständig wird.
Der »Radar« startet mit wenigen Elementen, die aber bereits erste Aussagen zulassen, wie die Akteure sich wandeln, zueinander verhalten, beeinflussen oder auch treiben lassen. Als erstes ständiges Modul führen wir ein Kommunikationsnetzwerk ein. Dafür haben wir, aufbauend auf einem Register ausgewählter Akteure, ein Snowball-Sampling durchgeführt, das auf Kommunikationen der Startakteure, genauer gesagt: auf deren Weiterleitungen von Inhalten, basiert. Die Startakteure wurden gemeinsam mit einer Expertin identifiziert. Hierbei wurden solche Akteure ausgewählt, von denen qualitativ gesichert gesagt werden kann, dass sie Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit konsequent abwerten und demokratische Institutionen delegitimieren.
Beschränkt ist dieses Netzwerk zunächst auf den Messengerdienst Telegram; es wird aber später um weitere Plattformen ergänzt werden, um letztlich ein plattformübergreifendes Bild von den Konstellationen hassrelevanter Netzwerke zu erhalten. Das Akteurs- bzw. Kommunikationsnetzwerk bildet außerdem die Hintergrundfolie weiterer Informationsschichten. Es ist als zeitlich dimensionierte Kartographie geclusterter Akteure zu verstehen, an der sich Trends ablesen lassen.
Als ersten Test für die Funktionalität unseres Analyseansatzes haben wir den Zeitraum rund um den Beginn des Ukraine-Kriegs gewählt, da wir hier erwarten, dass solch ein weltpolitisches Ereignis seine Spuren in den Netzwerkkonstellationen hinterlässt. Zumal mit Russland ein staatlicher Akteur die Hauptrolle als Aggressor einnimmt, der für einen Großteil des rechtsextremen, verschwörungsideologischen und des Querdenken-Spektrums am Vorabend des Kriegs ein wichtiger Bezugspunkt war. Um nun etwaige Auswirkungen zu analysieren, haben wir Telegram-Kanäle des genannten Spektrums ausgewertet. Außerdem haben wir Kanäle aus unserem Sample in die Analyse aufgenommen, die sich der Esoterik widmen, russische Propaganda bzw. russischen Imperialismus propagieren oder Corona-Desinformation verbreiten. Auch Reichsbürger-Kanäle wurden in die Analyse miteinbezogen.
Wer mit wem kommuniziert: Netzwerkeffekte im Zuge des Ukraine-Kriegs
Um Netzwerkdynamiken nachzuzeichnen, braucht es geeignete Messpunkte.2 Weiterleitungen, also Posts anderer Accounts, die über den eigenen Kanal verbreitet werden, sind eine Möglichkeit, um Beziehungen abzubilden. Allerdings wäre es problematisch, nur die Weiterleitungen zwischen den einzelnen ideologischen Gruppen zu zählen und über Zeiträume zu vergleichen. Dadurch würden die Weiterleitungen an sich überbewertet, wenn sie als einziger Indikator ideologischer oder diskursiver Nähe herangezogen würden. Normative oder ideologische Affinitäten mögen zwar ein wichtiges Motiv sein, um einem bestimmten Profil bzw. Account zu folgen oder dessen Nachrichten zu teilen, es gibt aber auch andere Gründe dafür. Zum Beispiel das vigilante Interesse am politischen Gegner – oder auch, um Kritik an einer Ansicht zu üben.
Außerdem teilen viele Nutzer*innen Inhalte oftmals schlicht deswegen, weil die Quelle relativ populär oder sichtbar ist: ein klassischer Matthäus-Effekt im digitalen Kontext.3 Auch Reziprozität ist ein wichtiger Interaktionseffekt in den sozialen Medien und netzwerkfähigen Messengerdiensten – und zwar der endogenen Art. Teilt etwa ein Kanal Nachrichten eines anderen, dürfte das die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass letzterer im Gegenzug ebenso Nachrichten des jeweils anderen teilt. Auch das Auftauchen von nur kurzzeitig aktiven Accounts sowie die Tendenz, Nachrichten eines Kanals direkt weiterzuleiten, wenn dies schon Kanäle tun, mit denen man bereits interagiert, ist in der Analyse zu berücksichtigen. Schließlich sind derlei endogene Faktoren wichtig, um belastbar zu bemessen, welchen Einfluss die ideologische Nähe der Akteure auf das Interaktionsverhalten hat.
Wie verändert sich also nun die Kommunikation der jeweiligen Gruppen zu Beginn des Krieges? Einen visuellen Einblick in das im Folgenden analysierte Netzwerk gibt die Grafikkomponente aus dem prototypischen Dashboard der BAG. Die untersuchten Akteure sind im Schnitt stark vernetzt und ergeben so ein sehr dichtes Netzwerk.
Aus der rein visuellen Inspektion können schwerlich Erkenntnisse gezogen werden. Mit einfachen Kennzahlen wie des mittleren Grades, welcher von 19 im Januar auf 14,3 im April gesunken ist, oder der mittleren Pfadlänge, welche statt 3,8 auf 4,7 gestiegen ist, lässt sich aber zeigen, dass die Verbindungen im Netzwerk abgenommen haben.
Diese Entwicklung muss jedoch nichts mit dem Krieg zu tun haben, zumal die Anzahl der Weiterleitungen in unserem Sample zuvor kontinuierlich rückläufig war. Gleichzeitig sehen wir aber eine starke Veränderung im Interaktionsverhalten. Lediglich Verbindungen zwischen Kanälen, die Corona-Desinformation verbreiten, und Verbindungen zwischen Kanälen des Rechtsaußenmilieus weisen eine statistisch signifikante Tendenz auf, bestehen zu bleiben. Letztere und Querdenker*innen leiten zudem verstärkt auch Nachrichten ihres eigenen Milieus weiter. Kurz gesagt: Die Milieus bleiben eher unter sich. Auch teilen die Kanäle weiterhin Nachrichten, die bereits von anderen mit ihnen verbundenen Kanälen weitergeleitet wurden. Diese Tendenz verstärkt sich im Beobachtungszeitraum sogar.
Neue Verbindungen zu anderen Kanälen knüpfen die Querdenker*innen in geringem Umfang. Ihre Inhalte werden von anderen Akteurstypen kaum geteilt. Selbst Verschwörungsideolog*innen teilen sie nur selten – rechtsextreme Akteure noch seltener. Querdenker*innen hingegen teilen weiterhin vermehrt Nachrichten aus allen Milieus. Die extreme Rechte bleibt verstärkt unter sich, teilt weniger häufig Nachrichten von Querdenker*innen oder Verschwörungsideolog*innen und bricht bereits bestehende Verbindungen zu Querdenker*innen ab. Auch Verschwörungsideolog*innen teilen weniger häufig Nachrichten von Querdenker*innen und Kanälen, die Corona-Desinformation verbreiten; auch sie brechen bestehende Verbindungen zu diesen ab. Rechtsextreme Inhalte werden von ihnen auch seltener geteilt. Ihre Inhalte haben allerdings weiterhin Konjunktur bei Kanälen, die Corona-Desinformation verbreiten oder sich der Esoterik verschrieben haben. Interessant ist vor allem die steigende Tendenz von Querdenker*innen, mit Beginn des Ukraine-Krieges, Inhalte von russischen Propagandist*innen und Imperialist*innen weiterzuleiten.
Relative Stabilität: Tentative Ergebnisse der Netzwerkanalyse
Als tentatives Ergebnis können wir feststellen, dass rund um den Beginn des Krieges vor allem Querdenken-Kanäle mit hoher Wahrscheinlichkeit Verbindungen zu russischen Propagandist*innen und Imperialist*innen durch das Teilen ihrer Inhalte etablieren. Sie teilen auch weiterhin munter Nachrichten aus allen Milieus. Dies wird jedoch von anderen ideologischen Gruppen nicht erwidert – sie leiten ihrerseits kaum Nachrichten von Querdenker*innen weiter. Dies steht, mit Blick auf die endogenen Effekte, sinnbildlich für eine starke Varianz in der Zentralisierung ausgehender Verbindungen: Es gibt einige zentrale Akteure, von denen viel geteilt wird – und sehr viele Akteure, von denen kaum Inhalte geteilt werden. Es werden also vor allem Nachrichten von bereits populären Akteuren weitergeleitet. Ein reziproker Austausch von Nachrichten ist in diesem Zeitschritt deutlich seltener zu beobachten.
Wie setzen sich nun diese (geringfügigen) Veränderungen im Verlauf des Kriegs und unter dem Eindruck einer drohenden Energiekrise, aber auch eines weiteren Corona-Winters fort? Betrachten wir das Netzwerk bis in den Spätsommer aus einer geringeren Brennweite, sticht ein relativ dicht vernetztes Zentrum mit einer etwas weniger stark vernetzten Peripherie ins Auge. In diesem Cluster sehen wir einerseits Meinungsmacher*innen aller Milieus und andererseits v.a. Querdenker*innen, bedingt durch ihr relativ stark ausgeprägtes Verhalten, Nachrichten aller ideologischer Gruppen weiterzuleiten. Bemerkenswert ist dabei, dass keines der Milieus ausschließlich in der Peripherie anzutreffen ist, sondern sie alle über gut vernetzte Akteure im zentralen Cluster verfügen. Ein Auseinanderbrechen des Netzwerks in mehrere Einzelcluster zeichnet sich also nicht ab, wenngleich es im Zeitverlauf durchaus Bewegung im Cluster gibt dadurch, dass einige Akteure mehr oder weniger häufig miteinander kommunizieren. Vor allem die Kanäle, die russische Propaganda und russischen Imperialismus propagieren, wandern ab dem Krieg zunehmend ins Zentrum.
Auch die einzelnen Milieus bleiben relativ gut miteinander vernetzt. Manchmal zwar nicht direkt – wie wir bei unserem kurzen Exkurs zum Beginn des Ukraine-Krieges gesehen haben – aber dennoch in der Regel über einige wenige Akteure bzw. Weiterleitungen verbunden. Wir beobachten also keine größeren isolierten Gruppen oder gar Milieus, wie man es bei einem so einschneidenden Ereignis wie dem Überfall Russlands auf die Ukraine und die damit einhergehenden Debatten durchaus hätte erwarten können. Kurz gesagt: Die Netzwerke im rechtsextremen und verschwörungsideologischen Spektrum bleiben trotz eines weltpolitischen Schocks relativ stabil. Inhalte der einzelnen Akteure können also relativ schnell und über wenige Umwege zu den anderen Akteuren gelangen und dort an die jeweiligen Abonnent*innen weitergeleitet werden.
Jene relative Stabilität muss aber nicht meinen, dass die Netzwerke ihre diskursive Charakteristik nicht verändern. Was auch die Ebenen von Narrativen und Themen einschließt. Eher als die Kommunikationsnetzwerke eines demokratiefeindlichen Milieus ändern sich nämlich dessen Themen, mit denen sie mitunter auch strategisch Menschen erreichen wollen – und die Narrative, die sich entlang von Themen entwickeln. Dass die Themen in den Milieus unterschiedlich sind, liegt ob der Heterogenität des Feldes auf der Hand. Die Querdenker*innen als (bis jetzt noch) single-issue movement beschäftigen sich naturgemäß am meisten mit der Corona-Thematik und Aufrufen zum Protest. Neurechte wiederum diskutieren mehr über eine Varianz politischer Themen, während Anhänger*innen des QAnon-Verschwörungskults einen Hang zum Esoterischen haben.
Worüber geredet wird: Die Themen von Rechtsextremismus & Co.
Allerdings ist es weit schwieriger einzuschätzen, welche diskursiven Muster sich wie im größeren Maßstab formieren und auch durchsetzen. Eine erste Annäherung an dieses Problem kann die Identifizierung von Themen sein, die in dem untersuchten Feld besonders zentral sind. Zu diesem Zweck berechneten wir mithilfe eines Topic-Modelling-Verfahrens 120 Themen, die auf Basis von Worthäufigkeiten gebildet wurden. Dabei ist zu beachten, dass maschinelle Kriterien zur Erfassung von Themen nicht immer deckungsgleich sind mit dem, was wir alltagssprachlich unter Themen verstehen.4 Die resultierenden Themen bilden daher unterschiedliche Abstraktionsgrade, Trennschärfe und thematische oder auch linguistische Kohärenzen ab.5 Für die vergleichende Betrachtung haben wir relevante Themen auf drei Ebenen aggregiert und inhaltlich nicht interpretierbare oder isolierte Themen dem Bereich Sonstiges zugeordnet.6
Auf den ersten Blick fällt bereits auf, dass das »Thema« Protestbewegung die stärkste Ausprägung hat. Unter dieser Kategorie versammeln sich Aufrufe zu Demonstrationen, eine Vielzahl von Aufrufen zu solidarischem Online-Aktivismus sowie Wehklagen über repressives Verhalten von Justiz und Sicherheitsbehörden, die nach Widerspruch oder auch Widerstand verlangten. Insbesondere die deutlichen Ausschläge bei den Aufrufen zu (digitalen) Aktionen legen bereits nahe, dass der Messengerdienst Telegram für das untersuchte Spektrum ein wichtiges Medium der Mobilisierung darstellt, aber auch ein Mittel des Selbsterhalts. Denn auch die Aufforderungen, dem eigenen Kanal zu folgen, Spenden zu senden, Videos zu gucken oder die eigene Unterstützung für bestimmte Individuen und Gruppen zu äußern, stellt hier einen wichtigen Topos der Online-Kommunikation dar.
Weiterhin ist Corona ein Dauerthema im Spektrum. Immer noch wird Desinformation zu Impfstoffen und ihren Folgen verbreitet, häufig verbunden mit verschwörungstheoretischen Narrativen. Trotz Lockerung der Maßnahmen, werden Ärzt*innen und Politiker*innen wiederholt denunziert und zum Gegenstand hasserfüllter Fantasien gemacht, die dann den Nährboden für gewalttätige Handlungen bilden. Im Corona-Kontext werden auch internationale politische Entwicklungen thematisiert, um die national getroffenen Maßnahmen in Frage zu stellen. Auffällig ist, dass im rechtsextremen Lager die Fokussierung auf Pandemiethemen abnimmt, während sie in anderen Akteursgruppen erstaunlich konstant bleibt. Dies könnte darauf hindeuten, dass wir es im rechtsextremen Bereich stärker mit strategisch denkenden Akteuren zu tun haben, die flexibler auf neue Themen aufsatteln und sie entsprechend ihrer Ideologie narrativ verarbeiten.
Überraschend ist, dass der Krieg im Gesamtkontext nie zum dominanten Thema wurde – wenn wir von russischen Propagandakanälen absehen, deren Nachrichten vermehrt in verschwörungsideologischen und rechtsextremen Kontexten geteilt werden.7 Daneben wurde sonst nur in rechtsextremen Kreisen nennenswert der Krieg debattiert, meist dessen Bedeutung für die eigene Bewegung. Aus dem Kriegskontext heraus entwickelte sich aber ein neues Thema: das der Energiekrise. Dieses konnte in fast allen ideologischen Segmenten einen mindestens leichten Anstieg verzeichnen. In verschwörungsideologischen Kontexten sehen wir noch eine zurückhaltende Thematisierung der Energiefrage. Im Rechtsextremismus hingegen erklomm sie den Rang eines Kampagnenthemas, das Verunsicherung schüren soll. Wie sich die Mobilisierung zu entsprechenden Protesten einfügt in die Genese rechtsextremer Bedrohungsnarrative, behandeln wir im anschließenden Fokus.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Sommer 2022: Wo bitte geht’s zur nächsten Krise?«, in: Machine Against the Rage, Nr. 0, Herbst 2022, DOI: 10.58668/matr/00.1.
Verantwortlich: Hendrik Bitzmann, Harald Sick, Maik Fielitz, Holger Marcks.
Für tiefere Einblicke in die Netzwerk- und Themenentwicklungen kann unser Prototyp von D-REX+ besucht werden, unser Datenthesaurus zu Rechtsextremismus & Co. im Netz.
- Damit soll nicht gesagt werden, dass das Narrativ vom Bevölkerungsaustausch entschwand, sondern lediglich in den Hintergrund trat. Zum Teil ist es außerdem in der Weitererzählung vom Great Reset inkorporiert. Siehe dazu: Heidi Schulze u.a., »Far-right Conspiracy Groups on Fringe Platforms. A Longitudinal Analysis of Radicalization Dynamics on Telegram«, in: Convergence, Nr. 4, Jg. 28 (2022), S. 1110.
- Zu den genauen Methoden unseres Vorgehens siehe den methodischen Annex.
- Siehe grundlegend Robert K. Merton, »The Matthew Effect in Science«, in: Science, Nr. 3810, Jg. 159 (1968), S. 56–63. Vgl. auch Anna Sophie Kümpel, »The Matthew Effect in Social Media News Use. Assessing Inequalities in News Exposure and News Engagement on Social Network Sites (SNS)«, in: Journalism, Nr. 8, Jg. 21 (2020), S. 1083–1098.
- Zur Berechnung der Themen haben wir die latente Dirichlet-Zuordnung genutzt (LDA). Diese berechnet zu einem gegebenen Korpus (im vorliegenden Fall alle erhobenen Telegram-Nachrichten) eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für alle Wörter für eine zuvor festgelegte Anzahl an Themen. Ein Thema ist schließlich durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung von Wörtern definiert. Jedem Dokument (im vorliegenden Fall eine Telegram-Nachricht) des Korpus wird schließlich die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Themen zugeschrieben. Ausführliche Informationen siehe im methodischen Annex.
- So erfasste unser Themenmodell mehrere »Themen«, die lediglich einen gewissen Sprachgebrauch widerspiegeln. Hiermit sind zusammenhängende Wortcluster gemeint, die einen Zusammenhang haben, ohne dass sich ein konkret analysierbares Thema ergibt, bspw. Monate, Füllwörter oder Präpositionen. Weiterhin splittet das Modell häufig Themen in spezifischere Themen auf.
- Für eine genaue Beschreibung des Vorgehens und der Validierung des Themenmodels siehe den methodischen Annex.
- Hierzu zählen insbesondere die Kanäle von russischen Influencer*innen, deren Reichweite zuletzt stark gestiegen ist, ebenso wie russische Nachrichtensender oder deutsch-russische Freundschaftsgruppen.