Der mutwillige Verlust von Kontext: Informationsverschmutzung in digitalen Diskursen
Kontext gilt gemeinhin als wichtig für die Lösung eines Rätsels. In den sozialen Medien scheint sich dieses Diktum jedoch umzudrehen: Der Kontext wird zum Rätsel. So lässt sich der Ursprung von Kommunikaten nicht immer schnell und klar verorten, während plakative, teils irreführende Ausschnitte beschleunigte Verbreitung finden. Derlei Dekontextualisierung kann Ausdruck bewusster Manipulation sein, weitaus öfter aber dürften sich viele damit selbst manipulieren, da sie Informationen nach Vorlieben und Vorurteilen filtern. Der damit einhergehende Kontextkollaps verkompliziert einen verständigungsorientierten Austausch. Wie ein solches Kommunikationsverhalten mit dem technischen Design von Plattformen zusammenhängt, behandeln wir in unserer Blitzanalyse mit der Medienwissenschaftlerin Whitney Phillips.
Spaces, X, 27. August 2023. Im Audio-Format der Plattform X finden sich verschiedene Menschen zusammen, um zu diskutieren, ob und inwiefern die Corona-Politik kritisch aufgearbeitet werden müsste.1 Der Host, Christian Trutz, ist Journalist und wie viele seiner Follower*innen kritisch gegenüber dem Milieu der Corona-Skeptiker*innen. Viele Menschen kommen dabei zu Wort, auch solche, die die Pandemiemaßnahmen für freiheitsberaubend halten. Nach über drei Stunden schaltet sich die grüne Kommunalpolitikerin Barbara Domke ein. Sie unterbricht einen Teilnehmer, der sich in seiner Kritik der Corona-Politik auf (vermeintlich) wissenschaftliche Studien bezieht, äußert ruppig. Es kommt zum Wortgefecht; hörbar aufgebracht übertönt Domke den Vorredner und endet mit der Aussage: »Ich verdiene 25.000 Euro im Monat. Ich kann mir diese Studien kaufen. Und damit überschwemmen wir euch.« Für sich genommen eine problematische Aussage. Wissend um die Lebensumstände Domkes ist sie allerdings leicht als ironische Zuspitzung zu erkennen, die sich über Verschwörungsdenken lustig macht.2 Wenig später erhält die Aussage in rechten digitalen Umfeldern große Reichweite: als Beleg für die Korrumpiertheit des politischen Gegners. Kurze Zeit später tritt Domke als Stadtverordnete zurück.3
Gillamoos, 31. August 2023. Der Spitzenkandidat der Bayerischen Freien Wähler (FW), Hubert Aiwanger, tritt zum ersten Mal nach Beginn der Flugblattaffäre vor breitem Publikum auf. Es ist Wahlkampf in Bayern und das Bierzelt die Bühne. Aber auch das Netz verfolgt seine Rede, wobei das Interesse am Livestream mit weniger als 4.000 Aufrufen wohl kaum der Rede wert ist. Was deutlich mehr Interesse weckt, ist hingegen ein Ausschnitt von Aiwangers Rede, der im Nachhinein verbreitet wird. Überschrieben mit »Zwangsarbeit statt Integration«, erreicht der 34-sekündige Clip,5 der auf X ausgespielt wird, über 600.000 Menschen; Empörungspotenzial inklusive. Denn er verknüpft einzelne Aussagen der Rede mit einem Framing, das den Eindruck entstehen lässt, Aiwanger mache Stimmung gegen Migrant*innen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, und drohe ihnen – unter Ablehnung von Integrationsmaßnahmen – Arbeit unter Zwang an. Selbst nach Hinweisen, dass Aiwangers Aussagen das nicht hergeben und andere Passagen seiner Rede das deutlich machten, will der Urheber des Posts eben selbigen nicht löschen.
Was ist hier passiert? Die Aussagen der beiden Hauptfiguren werden in beiden Fällen so verkürzt und aufbereitet, sodass sie in das Weltbild einer jeweiligen digitalen Community passen. Diese greift die vermeintlichen Aussagen skandalisierend auf, verbreitet Gerüchte im Brustton der Empörung und macht sie damit zum Gegenstand einer spektakelaffinen Öffentlichkeit. Auch Medien berichten, und die Plattformen bekommen ihre Klicks. Der Kreislauf digitaler Empörung zeitigt immer neue Themen, kommt aber stets auf einen gemeinsamen Nenner: Die bewusste oder unbewusste Vernachlässigung von Kontext. Während oft behauptet wird, dass dieses Problem durch die Vermittlung einer werteortientierten Medienkompetenz abgemildert werden könne, legen wir mit der Blitzanalyse nah, dass wir es mit einem Kontextkollaps by design zu tun haben, dem man sich schwer entziehen kann. Was bedeutet das?
Design Thinking: Der systematische Kontextkollaps
Es liegt in der Natur der Sache, dass wir mit zeitlich begrenzten Ressourcen nicht die Möglichkeiten haben, alle Informationen stets zu überprüfen und die Fakten zu checken, die täglich auf uns einprasseln. Potenziell nehmen Menschen, die sich auf digitalen Plattformen bewegen, heute so viele unterschiedliche und widersprüchliche Signale wahr, dass es schwer ist, sie richtig zu ordnen und weiterzuverarbeiten. Oft fällt es schwer, sich zu erinnern, von welcher Quelle eine aufgeschnappte Information vom Vortrag stammt. Und doch vermitteln die nicht enden wollenden Feeds und Timelines, dass der Fokus der Aufmerksamkeit klein proportioniert werden muss, um möglichst viele Informationen aufzunehmen. Dabei stechen Inhalte hervor, die Affekte wie Wut auslösen; Aussagen, die gegen eine bestimmte Norm verstoßen oder eine Reaktion zu erfordern scheinen. Unter dem Eindruck kollektiver Wutentladungen verschwinden die Grautöne und der Kontext tritt in den Hintergrund.
Dass – insbesondere aus linker Perspektive – der konservative Aiwanger nach seinem umstrittenen Umgang mit dem Flugblatt nun Migrant*innen zur Zwangsarbeit verpflichten wolle, schien ins Schema zu passen: eine logische Konsequenz der neonazistischen Allüren Aiwangers. Dass – insbesondere aus rechter Perspektive – die Grünen-Politikerin Domke unerhört viel (Steuer-)Geld erhält und sich damit Studien kauft, die die Gesellschaft auf (grüne) Linie bringen sollen, nährt einen bestehenden Verdacht, der sich nun zu bestätigen scheint: Skandal! Beide Kommunikate sind zwar denkbar schlecht geeignet, politische Animositäten auszutauschen. Und doch: Die komplexen Schichten der digitalen Kommunikation werden hier bewusst vernachlässigt. Im Falle Aiwanger reichen Schlagwörter und Schwingungen, um das Vorturteil bestätigt zu sehen; im Falle Domkes wird Ironie als rhetorisches Mittel per se ausgeschlossen. Ein klarer Fall böswilliger Interpretation.6
Solch irreführenden Inhalte werden dankbar aufgenommen in den adressierten Milieus. Viele kommentierte Weiterleitung lassen erahnen, dass die Multiplikator*innen dieser Fehlinformationen das Ausgangskommunikat nicht einmal gesehen haben, sondern schon bei der Übertitelung klickfreudig wurden. Einmal viral gegangen, erfährt die verkürzte bzw. grob falsche Darstellung des Gesagten somit eine weitere Schieflage. Dekontextualisierung kann also mehrschichtig sein. Im Falle Aiwangers etwa nimmt der Ausschnitt zwar Kontext weg, der für mehr Klarheit sorgen würde. Dennoch muss selbst der besagte Ausschnitt böswillig interpretiert werden, um diese Aussage als Stimmungsmache gegen Flüchtlinge zu verstehen. Dabei sollte doch Vorsicht geboten sein, wenn der Ursprung von Informationen unklar ist. Poe’s Law lässt grüßen. Nichtsdestotrotz beteiligen sich viele Kommentierende an einer Informationswäsche, bei der Informationen über so viele Screens weitergegeben und verfremdet werden, bis sie die genehme politische Botschaft transportieren. Dabei ist der Irrtum des einen die Desinformation der anderen.
Digitale Verschmutzung: Mechanismen der Web-Erhitzung
Die Natur des digitalen Kontextkollaps liegt mitunter im Format begründet. So sind Personen des öffentlichen Lebens mehr als je zuvor in Live-Formaten zu sehen und zu hören, die ungefiltert im Netz verbreitet werden. Ein viereinhalbstündiger Podcast produziert dermaßen viel Material, dass es leicht ist, schiefe Töne, Versprecher, Missverständnisse oder auch tatsächlich fragwürdige Aussagen zu finden. Nicht zuletzt wird man oft in die Situation gebracht, sich zu Inhalten zu äußern, in denen man wenig Expertise hat. Gar nicht erst davon zu reden, dass Formate bei X Spaces oftmals darauf angelegt sind, Reißer zu produzieren, um sich ein Publikum aufzubauen. Die kollaborative Detektiv-Arbeit, die in sozialen Medien zum Volkssport mutiert, wird immer umfänglicher.7 Material, das sich im Meme-Format verpacken lässt, um den unliebsamen Gegenüber herabzusetzen, gibt es zuhauf. Wer suchet, der findet. Dabei werden unzählige Skandälchen produziert, die die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen der diskursiven Inhalte ablenken und sachliche Debatten verunmöglichen: Die Informationsverschmutzung im Ökosystem der sozialen Medien nimmt ihren Lauf. Über die dahinterliegenden Mechanismen haben wir mit Whitney Phillips gesprochen.
Whitney Phillips ist promovierte Medienwissenschaftlerin und arbeitet als Assistenzprofessorin an der School of Journalism and Communication (University of Oregon). Mit Ryan Milner verfasste sie unter anderem das Buch You Are Here. A Field Guide for Navigating Polarized Speech, Conspiracy Theories, and Our Polluted Media Landscape (2021). Die Erforschung digitaler Kulturen, kritischer Theorie sowie Mediengeschichte und -ethik stehen im Fokus ihrer Arbeit. (Bild: Jeremy Parker)
Informationsverschmutzung – was ist darunter zu verstehen und wie schreitet sie voran?
Der Begriff steht für einen ökologischen Blick auf Schäden im Internet. Er hebt sich von den Begriffen der Mis- und Desinformation ab, wo man Annahmen trifft, ob jemand absichtlich lügt (Desinformation) oder unabsichtlich etwas falsch versteht (Misinformation). Was oft unmöglich festzustellen ist. Eine Person, die versehentlich Falschinformationen verbreitet, wird nicht gut darauf reagieren, wenn sie als Lügner bezeichnet wird, und ein Lügner schert sich nicht um Faktenchecks. Außerdem geht mit den Begriffen die Vorstellung einher, nur falsche Informationen könnten Schaden anrichten. Tatsächlich können wahre Informationen genauso schädlich sein, je nachdem, wie und mit wem sie geteilt werden. Bilder von Gewalt gegen bestimmte Gruppen können etwa für Angehörige enorm traumatisierend sein. Beim Begriff der Informationsverschmutzung hingegen liegt der Fokus nicht auf der Absicht des*r Urheber*in oder dem Kriterium der Unwahrheit, sondern den Auswirkungen auf das Publikum und das breitere Online-Ökosystem. Innerhalb dieser Kategorie kann man zum einen verschmutzte Informationen betrachten, also solche, die selbst schädlich sind (z.B. weil sie entmenschlichend, grausam oder falsch sind). Zum anderen kann man verschmutzende Informationen betrachten, also solche, die zwar wahr sind, aber dennoch Schaden anrichten, wenn es zu viele davon gibt – oder die das Publikum in Panik versetzen oder eine andere negative Wirkung haben. Eine Diskussion über Informationsverschmutzung bietet sich auch deswegen an, um über die nachgelagerten Folgen unseres Handelns nachzudenken, was für ethische Überlegungen von zentraler Bedeutung ist.
Technische Affordanzen – lässt sich menschliches Verhalten durch Plattformen konditionieren?
Meinen Studierenden erkläre ich Affordanzen mit der Metapher eines Klettergerüsts für Kinder. Die können da spielen, wie sie wollen, aber bestimmte Arten des Spiels werden durch das Gerät selbst gefördert. Wenn es etwa Stufen zu erklimmen gibt, werden die Kinder sie wahrscheinlich benutzen; wenn es eine Rutsche gibt, dann diese auch. Sie müssen es nicht, aber das Design des Struktur bestimmt, wie das Gerüst am ehesten genutzt wird. Das Gleiche gilt für die sozialen Medien, die bestimmte Dinge einfacher oder einfach nur möglich machen. Sie belohnen auch manches, während sie von anderem abhalten. Das resultiert dann in den Verhaltensweisen, die man häufig sieht. Für die Verbreitung und den Remix von Informationen sind diese Erleichterungen zentral. Durch verschiedene Funktionen können Nutzer*innen etwas, das sie an einem Ort gefunden haben, ohne großen Aufwand an einen anderen verschieben. In ähnlicher Weise können sie problemlos größere Medien nehmen und sie ausschneiden, mit Photoshop bearbeiten oder anderweitig verändern, um sie ihren spezifischen Bedürfnissen anzupassen. Dinge aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen und etwas Neues mit ihnen zu machen, ist die Grundlage für alle Formen des digitalen Spiels. Das kann großartig sein. Es kann aber auch zu einer starken Dekontextualisierung führen. Wenn man nicht weiß, wo etwas herkommt, welche Auswirkungen es hat oder wohin es als nächstes geht, ist es schwierig, die ethischen Folgen zu beurteilen. Jemand will vielleicht keinen Schaden anrichten, aber wenn man nicht weiß, dass es Zehen gibt, auf die man nicht treten sollte, ist es leicht, auf viele zu treten.
Social Media Stress – wie können wir ihm entgegenwirken?
Wenn wir in eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion verfallen, werden wichtige kognitive Funktionen ausgeschaltet: Wir verlieren die Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen, reale Bedrohungen von eingebildeten zu unterscheiden und sogar uns daran zu erinnern, dass andere Menschen auch Menschen sind. Dies kann ein Nachdenken über Konsequenzen nahezu unmöglich machen. In akuten Stressmomenten erlaubt es unser Gehirn nicht, über unsere eigenen Ohren hinaus zu denken. Dies ist ein endemisches Problem. Gerade in der klick-basierten Internetwirtschaft sind wir darauf konditioniert, limbisch zu werden: wir verlieren die Perspektive, die für eine ethische Reflexion erforderlich ist, wenn man etwas teilen möchte. Das Ergebnis davon ist eine Verschmutzungskettenreaktion (pollution chain reactions): Der Stress bewirkt ein reaktives Teilen, das wiederum andere stresst und zu deren reaktiven Teilen beiträgt, da sich alle zunehmend furchtbar fühlen. Wenn wir verstehen wollen, warum die Dinge online so leicht ins emotionale Chaos abgleiten, müssen wir einen kritischen Abstand zu unseren eigenen Reaktionen gewinnen und lernen zu erkennen, wann wir limbisch werden. Natürlich aber fangen unsere Online-Probleme nicht beim Einzelnen an, sondern bei den Plattformen. Was sich wirklich ändern muss, sind die strukturellen Dynamiken, die uns in diese Situation gebracht haben – aber wir können nicht anfangen, uns für solche Änderungen einzusetzen, wenn wir nicht verstehen, wie der Groll und die Wut mit den Affordanzen unserer Plattformen zusammenhängen.
Im Kreislauf der Verschmutzung: Anstand als Mangelware
Das Ein- und Mitmischen in digitalen Diskursen unterliegt gruppendynamischen Prozessen, die sich stark auf das Kommunikationsverhalten Einzelner auswirken. Up to date zu sein, Mitgefühl zu äußern, meme-fähiges Material zu posten, das sind soziale Anreizpunkte, die mit persönlicher und Anerkennung in Klickzahlen quittiert werden. Man möchte zeigen, moralisch unbestechlich zu sein oder eigene Standpunkte durchdacht vertreten zu können. Trotz oder gerade wegen der individualistischen Inszenierung werden so Bestätigungstendenzen (confirmation bias) im eigenen Umfeld erzeugt,8 durch die irreführende und post-faktische Beiträge Unterstützung finden können. Denn der Wert und die Richtigkeit einer Information werden oft an ihrem Urheber oder ihrer Multiplikatorin festgemacht. Insbesondere große Social-Media-Accounts genießen im jeweiligen Schwarm einen Vorschuss an Vertrauen, das durch Richtigstellungen oder Anfeindungen durch eine (vermeintliche) Gegenseite meist noch gestärkt wird. Der so ausgelöste identitäre Herdentrieb öffnet so die Tür für dekontextualisierte Informationen. Sachliche Hinweise gehen im Getöse unter.
Menschen wollen ihre Vorurteile bestätigt sehen und reproduzieren daher schnell Inhalte, die diesen entsprechen, ohne sie zu prüfen. Diese emergente Dynamik führt dann auch schnell von dekontextualisierten Inhalten zur Informationsverschmutzung. Während auf rechter Seite traditionell ultrapragmatisch mit Fragen von Wahrheit und Ethik umgegangen wird,9 eine gewollte Empörung über eine als Feindin verschriene Politikerin also nicht überraschend ist, sehen wir auch auf linker und liberaler Seite die Tendenz zu digitalen Lauffeuern, wo mit Falschinformationen politische Stimmung erzeugt wird. Hierbei werden durchaus doppelte Standards angesetzt. Denn bei genauem Hinhören ist Aiwangers Position, Flüchtlinge so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen, nicht weit entfernt von Forderungen der SPD oder der Grünen.10 Die Aussagen, die hier von manchen als rechtsextreme Hetze auf- und angefasst wurden, wären in einem Kontext wohl als eine hemdsärmlige »Wo ein Wille, da ein Weg«-Attitüde aufgenommen worden. Eine Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Kern wird so dem plakativen Abarbeiten an einer Person geopfert.
Was im Fall Aiwanger aber auch geschah, ist, dass potenziell Angesprochene die Inhalte richtigstellten. So bezeichnete der Tagesspiegel-Journalist Julius Betschka den Clip als »Fake News«,11 und der Grünen-Politiker Volker Beck setzte sich dafür ein, dass der skandalisierende Post sofort gelöscht werden soll.12 Diese öffentlich ausgetragene Kritik wurde zunächst wohlwollend kommuniziert im Sinne, dass der Urheber der skandalisierenden Botschaft hier etwas in den falschen Hals bekommen haben müsse. Diese Form der wohlwollenden Interpretation sucht man im digitalen Diskurs an anderer Stelle allerdings vergebens. Und sie führt auch nicht unbedingt zu Einsicht. Dass der Urheber infolgedessen lediglich einen Transparenzhinweis ergänzte und das Video nicht löschte,13 zeigt jedenfalls, dass die vor sich hinwabernden Empörungskreisläufe immer auch an Fragen der persönlichen Integrität geknüpft sind. Die schnellen Wege zu Fame, die das digitale Klettergerüst bieten, sind manchen eben verlockender als die faire, beharrliche Auseinandersetzung.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Whitney Philipps, »Der mutwillige Verlust von Kontext. Informationsverschmutzung in digitalen Diskursen«, in: Machine Against the Rage, Nr. 4, Herbst 2023, DOI: https://www.doi.org/10.58668/matr/04.3.
Verantwortlich: Maik Fielitz, Wyn Brodersen, Holger Marcks, Harald Sick.
- Siehe »›Aufarbeitung‹ heißt übersetzt ›Ich, ich, ich will Recht haben‹«: @trutzonline | 27. Aug. 2023 | 16:18.
- Für sich genommen ist diese Aussage natürlich problematisch. Auch das Auftreten der Politikerin in der digitalen Debatte war fragwürdig. Sie entschuldigte sich später dafür. Allerdings steht die Aussage im Kontext, dass zuvor über Verschwörungstheorien gesprochen wurde. Relativ einfach als Ironie bzw. Satire ist sie zu erkennen, insbesondere wenn man die Lebensumständer der Kommunalpolitikerin kennt, die als Sozialarbeiterin gewiss nicht so viel Geld verdient. Dennoch wurde es wie bare Münze kolportiert.
- Laut Aussage Domkes war die gegen sie gerichtete mediale Kampagne nach dem Spaces-Auftritt nicht der einzige Grund des politischen Rückzugs. Auch war ein Grund, dass ihr die Rückendeckung in ihrer eigenen Partei gefehlt habe. Siehe Silke Halpick, »Grüne in Cottbus: Barbara Domke zieht sich aus Kommunalpolitik zurück«, in: Leipziger Rundschau, 4. Sept. 2023, online hier.
- Zur Affäre siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Die Ausweitung der Blauzone. Wie dem Rechtsextremismus die Debatte um seine Eindämmung nutzen könnte«, in: Machine Against the Rage, Nr. 4 (Herbst 2023), online hier.
- Siehe @SsamanMardi | 5. Sept. 2023 | 14:08.
- Siehe dazu Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Philipp Huebl, »Prinzip der böswilligen Interpretation. Empörung als moralisches Kapital im digitalen Lagerkampf«, in: Machine Against the Rage, Nr. 3 (Sommer 2023), online hier.
- Vgl. Vincent Fröhlich, Der neue Konspirationismus. Wie digitale Plattformen und Fangemeinschaften Verschwörungserzählungen schaffen und verbreiten (Marburg: Büchner-Verlag, 2022), insbes. S. 100–103.
- Diese Lesart folgt der Analyse des Soziologen Andreas Reckwitz, der eine Tendenz zur Singularisierung – also die Hervorhebung des Besonderen, Einzigartigen und Nicht-Austauschbaren – als zentralen Prozess in der spätmodernen Gesellschaft identifiziert. Er argumentiert, dass die Gesellschaft einem individualistischen Imperativ Nachdruck verleiht, die individualistischen Lebensentwürfe sich aber zugleich erstaunlich ähnlich sind. Siehe Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne (Berlin: Suhrkamp, 2017), insbes. S. 102–110.
- Vgl. Federico Finchelstein, A Brief History of Fascist Lies (Oakland: University of California Press, 2020), insbes. S. 11–19.
- Vgl. etwa »Vorschlag aus Grünenfraktion: Wirtschaftsminister Habeck will mehr Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge«, in: Spiegel, 6. Okt. 2023, online hier.
- Siehe @JuliusBetschka | 6. Sept. 2023 | 10:44.·
- Siehe @Volker_Beck | 6. Sept. 2023 | 09:11.
- Siehe @SsamanMardi | 6. Sept. 2023 | 12:29.