Frühjahr 2024: Politiker*innen im Visier, Europawahl im Fokus
Was passierte zuletzt im demokratiefeindlichen Lager? Dieser Frage gehen wir wie immer im Radar nach, wo wir zentrale Ergebnisse unseres Langzeit-Monitorings teilen und die sich abbildenden Trends analysieren. Diesmal fügen sie sich in den Vorlauf der Europawahl ein, in deren Schatten viele politische Diskussionen standen, auch geprägt von der Sorge um einen Rechtsruck. Die Angriffe auf Politiker*innen auf der Straße und im Netz waren hier ein wiederkehrender Topos, der auch in Bezug zu Mobilisierungen auf der Straße stand. Wie immer behandeln wir auch die neuesten Thementrends im Kommunikationsverhalten demokratiefeindlicher Akteure und zeigen, wer aus diesem Spektrum auf Telegram an Popularität gewinnt oder verliert.
Der Ausklang des Frühlings stand ganz unter dem Eindruck der Europawahl. Sie hielt für das linke und liberale Lager einen mittleren Schock bereit. Nicht nur international sind rechtsextreme und -populistische Kräfte weiter auf dem Vormarsch, auch hierzulande steht die AfD – trotz des ausgerufenen Kampfs gegen rechts und diverser Skandale – relativ stabil da. Insbesondere im Osten ist sie stärkste Kraft.1 Im Vergleich zu ihrem Umfragehoch musste sie zwar Punkte abgeben, wo die Wähler*innen hingingen, bleibt aber unklar. Fakt ist zumindest, dass die Ampelparteien weitere Schlappen einstecken mussten, während das neue BSW Achtungserfolge erzielte.2 Besonders aufrüttelnd wirkte der Umstand, dass es Arbeiter*innen zunehmend nach Rechtsaußen zieht – und mittlerweile verstärkt auch junge Wähler*innen.3 Über die Gründe solcher Verschiebungen können wir mit unserem Monitoring keinen Aufschluss geben, zumal Telegram nicht gerade von der Jugend frequentiert wird. Darstellen können wir jedoch, welche Debatten im Vorfeld der Wahl das politische Klima prägten und welche Trends im von uns beobachteten Akteursspektrum auf Telegram zu verzeichnen waren. Aufgrund der Pause des Trendreports im Frühling betrachten wir dabei diesmal das vergangene halbe Jahr.
Was bisher geschah – zum Ersten: Der Winter 2024
Das neue Jahr begann turbulent. Schlüttsiel und Biberach sind in kurzer Zeit zu Chiffren für übergriffige Proteste gegen die Grünen geworden.4 In den Medien haben die Vorfälle im Januar und Februar ein großes Echo ausgelöst. Beklagt wurde dabei eine Verrohung des Diskurses. In der Politik rief man zu Mäßigung und Solidarität auf. Kritisiert wurde dabei etwa die scharfe Rhetorik gegen die Grünen (mitunter aus Unionskreisen), die anstachelnd wirke, aber auch die Stoßrichtung der Bauernproteste, die offenbar die Grünen als Hauptgegner bestimmt hatten. Den Protestierenden wurde dabei vielfach, insbesondere in den sozialen Medien, attestiert, rechtsextrem unterwandert, beeinflusst, geprägt und/oder gesteuert zu sein.5 Dies zog – auch unter dem Eindruck rabiater Blockaden – die oft artikulierte Forderung nach sich, dass Politiker*innen die Proteste ganz oder teilweise verurteilen sollten. Insgesamt wurde das Problem, inwiefern Politiker*innen Hass ausgesetzt sind, damit wieder zu einem größeren Thema, nachdem es bereits Ende der 2010er Jahre zeitweilig etwas mehr Aufmerksamkeit genoss.6 Nun allerdings mit besonderem Augenmerk auf anti-grüne Angriffe.
Dass die Grünen vielen als Hassobjekt gelten, wurde bereits wiederkehrend problematisiert, vor allem im Zusammenhang mit Misogynie.7 Vor allem Politikerinnen wie Ricarda Lang oder Annalena Baerbock sind dabei Zielscheibe und erhalten viele Anfeindungen, die auf ihre Weiblichkeit abstellen; Kommentare zu ihrem Äußeren stehen auf der Tagesordnung.8 Insgesamt stehen die Grünen stark in Verruf. Neben der AfD sind sie es, die in der Bevölkerung die stärksten Aversionen hervorrufen.9 Für politische Missstände und Entwicklungen werden sie mehr als die anderen Ampelparteien verantwortlich gemacht. Auch die Polizeistatistik zu Übergriffen auf Politiker*innen zeigt, dass die Grünen viel einstecken müssen. Zwar erfahren sie, auch wenn die Tendenz steigend ist, nicht so viel Gewalt wie AfD-Politiker*innen; ihre Einrichtungen sind aber mittlerweile am stärksten von Angriffen betroffen. Zugleich sind sie am häufigsten Opfer von Äußerungsdelikten.10 Wobei insbesondere beim letzten Umstand, wo es um verbale Angriffe geht, zu berücksichtigen ist, dass die Meldepraxis in den politischen Milieus recht unterschiedlich ausgeprägt sein kann.
Was bisher geschah – zum Zweiten: Der Frühling 2024
Die Diskussion über eine Verrohung nahm im Frühling ihre Fortsetzung, nachdem der SPD-Politiker Matthias Ecke Anfang Mai in Sachsen körperlich angegriffen wurde.11 Es folgte der Messerangriff auf den islamkritischen Aktivisten Michael Stürzenberger Ende Mai in Mannheim, in deren Folge ein Polizist ums Leben kam.12 Der Terrorakt hatte in den sozialen Medien emotionale Kontroversen zur Folge – auch unter dem Eindruck, dass wenige Tage später ein AfD-Politiker in Mannheim mit einem Messer attackiert wurde.13 Neben erhitzten Diskussionen über den Umgang mit Islamismus und Migration empörten sich rechte Kräfte in den sozialen Medien vor allem darüber, dass Gewalt gegen rechte Politiker*innen medial heruntergespielt würde. Verwiesen wurde dabei auf die vorherige Debatte zu Angriffen auf Grünen- und SPD-Politiker*innen, die ungleich mehr Aufmerksamkeit bekämen als Angriffe auf AfD-Personal. Auch auf die große Aufregung rund um das xenophobe Sylter Partyvideo wurde im Folgenden häufig Bezug genommen; es zeige sich im Vergleich eine ideologisch motivierte Prioritätensetzung in Medien und Politik.14
So wie Grünen-Politiker*innen zuvor eine hasserfüllte Rhetorik gegen ihre Partei beklagten, führten nun auch AfD-Politiker*innen an, einer Dämonisierung zu unterliegen, die zu Angriffen gegen sie verleite.15 Dieses beidseitige Empfinden, verstärktem Hass ausgesetzt zu sein, spiegelt sich auch in den Ergebnissen einer Erhebung des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz wider, wonach digitaler Hass auf beiden Seiten des politischen Spektrums beklagt wird: Links wie rechts sieht man sich da ähnlich stark betroffen; in Bezug auf erfahrenen Hass wegen der eigenen politischen Ansichten rechts sogar etwas mehr.16 Das legt nahe, dass das Problem der Verrohung stärker auch unter dem Gesichtspunkt einer Polarisierung betrachtet werden sollte. Zumindest zwischen spezifischen politischen Milieus scheint ein deliberativer Dialog momentan kaum möglich und bestimmt der Modus des Konflikts die Auseinandersetzung. Die Forschung hätte hier zu klären, welche Rolle dies wie auch die geschilderten Debatten dabei spielen, dass nun auch zunehmend Jugendliche ihr Wahlverhalten nach rechts ausrichten, wie im Juni dann die Europawahl zeigte.
Wer mit wem kommuniziert: Netzwerke auf Telegram
Was geschieht in dieser politischen Gemengelage mit den Netzwerken der von uns untersuchten Akteure? Mit der aktuellen Ausgabe unseres Trendreports blicken wir nunmehr auf zwei Jahre kontinuierliches Monitoring potenziell demokratiefeindlicher Netzwerke auf Telegram. Was hat sich nun konkret im letzten halben Jahr getan? Basierend auf einem Register von 1.965 Kanälen interessieren uns zunächst die Verbindungen zwischen Akteuren, die sich aus ihren Verlinkungen untereinander ergeben, insbesondere mit Blick auf milieuübergreifende Kommunikation und deren Veränderung im Zeitverlauf. Für die erste Jahreshälfte von 2024 können wir feststellen, dass sich das Neonazi-Cluster etwas weiter aus der zentralen Komponente entfernt. Die Kanäle er_volkslehrer, frankrennike und insvenswelt fungieren allerdings weiterhin als wichtige Brückenbauer zum restlichen Netzwerk. Gerade der aus Halle stammende Sven Liebig (insvenswelt) ist stark und reziprok mit russischen Propagandakanälen verbunden – insbesondere mit dem Kanal deutschrussischefreundschaft. Die Hauptkomponente des Netzwerks hingegen ist weiterhin sehr dicht verbunden. Die Akteure leiten also munter Nachrichten über die ideologischen Grenzen hinweg weiter.
Als wir mit dem Monitoring begannen, haben wir die Akteure, die wir untersuchen, in ideologische Cluster eingeteilt.17 Dies hilft uns, weltanschauliche Ähnlichkeiten und organisatorische Praktiken als Variablen im Kommunikationsverhalten zu berücksichtigen. Es wäre zu vermuten, dass sich die Kanäle an ihrer Position im Netzwerk ideologisch einordnen ließen. Allerdings zeigen unsere Daten, dass es ein agiles Treiben über ideologische Grenzen hinweg gibt; zum Teil sehen wir auch enge Verbindungen zwischen den Milieus, wie im Fall von Reichsbürgern und QAnon-Anhänger*innen. In einer aggregierten Darstellung sehen wir uns daher genauer an, welche Verbindungen die von uns unterschiedenen Milieus miteinander eingehen. Wie bereits in den vergangenen Ausgaben sehen wir eine sehr enge Verbindung zwischen QAnon-Szene und Verschwörungsideolog*innen sowie hohe Out-Degrees im Bereich der pro-russischen Propaganda. Eine hohe Binnenkommunikation finden wir im Bereich der extremen Rechten vor, wohingegen sich rechtspopulistische Inhalte besonders stark in anderen Milieus verbreiten.
Interaktionsspitzen: Auffälligkeiten im Posting- und Weiterleitungsverhalten
Während in der Vergangenheit das Posting-Verhalten tendenziell in allen Milieus abgenommen hatte, wartete der Januar 2024 mit einer deutlichen Spitze von 22.816 Nachrichten auf. Diese Entwicklung hängt stark mit den Bauernprotesten zusammen, deren Vernetzung zu einem großen Teil über Telegram erfolgte. Hier wurde zu Blockade-Aktionen aufgerufen, die dann wiederum breit dokumentiert wurden, um zu weiteren Protestaktionen anzuregen. Heraus sticht dabei die Mobilisierung zum »Tag des Widerstands« am 8. Januar, an dem sich diverse Akteure beteiligten. Ein gleichnamiger Account galt der Koordinierung der Aktionen und erhielt schnell viel Reichweite. Auffällig ist, dass in dieser Phase alle Milieus deutliche Aktivitätszuwächse hatten, bis auf die Querdenken-Bewegung, von der kaum noch Mobilisierung ausgeht. Auch in den folgenden Monaten lassen sich Spitzen in der Kommunikation feststellen, meist, wenn öffentlich debattierte Ereignisse kommentiert wurden. Hierzu gehörte die Veröffentlichung der sogenannten RKI-Files durch die Alternativmedien-Seite »Multipolar« im April, deren sensationalistisches Framing auch von herkömmlichen Medien übernommen wurde,18 die Empörung über eine islamistische Demonstration in Hamburg im Mai 202419 sowie die Vorkommnisse auf Sylt.20
Die Sichtbarkeit von Akteuren im untersuchten Spektrum wird vor allem über ein aktives Weiterleitungsverhalten hergestellt. Es genügt also nicht, eine große Zahl von Abos zu besitzen. Um Inhalte auf Telegram viral gehen zu lassen, müssen sie von vielen anderen Accounts geteilt werden. Hierfür müssen die Akteure in den Aufbau von Beziehungen investieren. Uns interessiert daher, von welchen Akteuren besonders häufig weitergeleitet wurde und wie sich das im Zeitverlauf entwickelte. Zu den Gewinnern im Frühjahr zählt der in der Querdenken-Szene beliebte Tom Lausen, dessen Zentralität im Netzwerk deutlich nach der Veröffentlichung eines Buchs stieg, das in der Spiegel-Bestsellerliste gelandet war.21 Einen deutlichen Anstieg in den Weiterleitungen verzeichnen konnte auch der Youtuber Timm Kellner, dessen Videos seit Herbst letzten Jahres von dem bei Verschwörungsideolog*innen prominenten Online-Sender AUF1 ausgespielt werden. Auch dieser konnte am Ende des Untersuchungszeitraums hinzugewinnen. Verluste mussten hingegen die Freien Sachsen und der beliebteste QAnon-Kanal (qlobalchange) hinnehmen, die immer weniger von anderen Milieus geteilt werden.
Worüber kommuniziert wird: Themen und ihre Karrieren
Die Vielzahl der verbreiteten Nachrichten ist ohne maschinelle Methoden kaum zu analysieren. In dem von uns untersuchten Zeitraum von Dezember 2023 bis Ende Mai 2024, der damit ausnahmsweise ein halbes Jahr statt ein Quartal umfasst, wurden allein über 113.000 Nachrichten in Umlauf gebracht. Die meisten von ihnen sind textbasiert, allerdings in sehr unterschiedlicher Länge. Um Ordnung in den Kommunikationswust zu bringen, nutzen wir wie immer das Topic-Modelling-Verfahren der latenten Dirichlet-Verteilungen (LDA). Dieses errechnet 120 Themen, die dann mit Labels versehen wurden. Das Modell hilft zu verstehen, wie sich die thematischen Schwerpunkte der verschiedenen Milieus periodenübergreifend entwickeln.22 Am meisten diskutiert wurde über politische Themen wie internationale Konflikte, die Lage in den USA oder die Politik der AfD. Regierungs- und Medienkritik tritt unter dem Mantel der Repression hervor, der man sich ausgesetzt sieht. Aber auch esoterische Themen bewegen viele Kanäle. Darunter fallen beispielsweise Selbstliebe, kosmische Energien und Transzendenz.
Im Vergleich zur vorherigen Ausgabe fällt auf, dass sich wieder mehr über den Kriegsverlauf in der Ukraine ausgetauscht wird. Migration steht hingegen weniger häufig im Fokus, was auch mit der geringeren Salienz des Themas in den Medien zu tun haben dürfte. Über längere Zeiträume hinweg betrachtet, gibt es in der Kumulation aller Ideologien kaum erwähnenswerte Unterschiede. Dividiert nach den verschiedenen Milieus werden allerdings spezifische Entwicklungen deutlich. So finden wir unter esoterischen Accounts eine noch dominantere Auseinandersetzung mit spirituellen Themen vor (ein Anstieg von 14 Prozent). Bei neu- und extrem rechten Akteuren sehen wir einen deutlichen Ausschlag bei nationalpolitischen Themen zum Jahresbeginn, was andeutet, dass sie hier die Bauernproteste stark für sich beanspruchen wollten. Reichsbürger haben sich in den vergangenen Monaten viel stärker über verschwörungsideologische Themen ausgetauscht, wohingegen sich pro-russische Propagandakanäle nach dem Hamas-Massaker im Oktober 2023 deutlich mehr zu diesem Konflikt äußern. Das zeigt, dass die pro-russische Propaganda über medial präsente Themen Einfluss zu nehmen versucht.
Was die Kurven sagen: Auffälligkeiten in den Thementrends
Blicken wir eine Themenebene tiefer zeigt sich, dass in allen ideologischen Milieus die Bauernproteste zeitweilig Aufmerksamkeit auf sich zogen, allen voran bei neurechten Akteuren. Heraus sticht außerdem, dass der Abhörskandal bei der Bundeswehr sowie die NATO-Truppenübung unter dem Codenamen »Quadriga« im Frühjahr unter fast allen Akteursgruppen eine rege Kommunikation ausgelöst haben. Ferner ist auffällig, dass das Thema Repression zu Beginn dieses Jahres einen leichten Aufschwung erlebt hat, insbesondere im Milieu der Neuen Rechten, was mit den Mobilisierungen gegen rechts zu tun haben könnte, in deren Kontext auch Maßnahmen gegen Rechtsextremismus verstärkt diskutiert wurden. Beim Thema Klimawandel wiederum zeigt sich eine Wellenförmigkeit; es hat bei verschiedenen Milieus wiederkehrend Konjunktur. Eine weitere interessante Beobachtung ist, dass esoterische Themen im Milieu der Corona-Skeptiker*innen immer dominanter werden, während der Themenkomplex rund um Diversität, Queer- und Wokeness in allen Milieus nachgelassen hat; entgegen mancher Wahrnehmung in den Medien spielte er im untersuchten Spektrum ohnehin keine übergeordnete Rolle.
Nicht überraschend bestätigte sich die im letzten Trendreport zunächst nur ansatzweise erkennbare Tendenz, dass der Israel-Gaza-Konflikt nach Oktober relativ schnell an Bedeutung im untersuchten Spektrum verlor. Hingegen ist es eine doch etwas überraschende Entwicklung, dass das Thema speziell in der Querdenken-Bewegung mit einer gewissen Konstanz thematisiert wird, wodurch sie sich mittlerweile als das Milieu herauskristallisiert hat, die das Thema am stärksten behandelt – und das, obwohl hier die initiale Reaktion darauf vergleichsweise gering ausfiel. Interessant ist schließlich auch, dass die Neue Rechte das Thema Migration und Flüchtlinge, welches im letzten Jahr ein konstanter Themenschwerpunkt bei Rechtsextremismus & Co. war und dabei über weite Strecken im Bereich von acht Prozent Anteil lag, nun in Zeiten des Europawahlkampfs nur noch halb so häufig behandelt wurde. Es bleibt dabei abzuwarten, ob wir hier erste Anzeichen einer strategischen Abkehr sehen oder es sich um kurzzeitige Umfokussierung im Kontext einer laufenden (Re-)Migrations-Debatte oder des Wahlkampfs handelt.
Die Spitze des Eisbergs: Metrische Trends im Frühling 2024
Die Abo-Entwicklung der Kanäle lässt sich vor dem Hintergrund allgemeiner Trends interpretieren, die sich auch in den Umfragen zur Europawahl widerspiegeln. So wurde etwa berichtet, dass die Friedenssicherung anstelle der Bewältigung der Corona-Pandemie die Wähler*innen beschäftigt.23 Dazu passt, dass Anti-Konsens-Gruppen, Querdenken-Kanäle und solche mit Bezug zu Corona-Desinformation an Boden verlieren, während russische Propaganda-Kanäle zulegen. Das gilt sowohl bei kleinen als auch bei großen Kanälen, die lediglich in der Deutlichkeit der Propaganda unterscheiden. So ist der Anstieg bei Kanälen, die den russischen Angriffskrieg in der Ukraine explizit befürworten, bei den kleinen höher als bei großen mit über 20.000 Abos. Auch Kanäle der extremen Rechten verbuchen eine weitestgehend positive Bilanz. Bei den großen Kanälen wächst die Neue Rechte um durchschnittlich 4,75 Prozent, bei den kleineren können organisierte Neonazis einen Zuwachs von über fünf Prozent verzeichnen. Wie bei den Themen im Zeitverlauf zeigt sich auch hier ein allgemeiner Abwärtstrend in puncto Corona. Sowohl bei großen als auch bei kleinen Kanälen verzeichnen Querdenken-Akteure und Anti-Konsens-Gruppen Verluste. Große Kanäle aus dem Bereich der Corona-Desinformationen haben den stärksten Rücklauf unter großen Kanälen, während sie bei kleineren leichte Zuwächse verbuchen. Einige Kanäle stellten ihre Aktivitäten ein.
Schauen wir uns die konkrete Follower-Entwicklung an, sehen wir, dass die Freien Sachsen unter den etablierten Kanälen die deutlichsten Verluste hinnehmen müssen.24 Noch stärker fielen diese beim sogenannten Corona-Ausschuss aus – nicht zu verwechseln mit dem sich aktuell konstituierenden Untersuchungsausschuss der Bundesregierung. Der hier genannte Kanal litt an internen Streitigkeiten durch die mutmaßliche Veruntreuung von Spendengeldern durch ihren Vorsitzenden Reiner Füllmich und verlor so an Ansehen in der Szene. Weiterhin hat bereits erwähnte Timm Kellner einen deutlichen Zuwachs verzeichnen können, was zeigt, dass eine erhöhte Verlinkung in dem Feld auch einen Anstieg in der Followerschaft nach sich ziehen kann. So wird auch die Reichweite des Kanals genutzt, um auf seine Videos und seine Person zu verlinken. Der Identitäre Martin Sellner hat unter den großen Accounts (größer als 20.000 Abonnent*innen) den größten Zugewinn an Followern, was mit großer Wahrscheinlichkeit mit der Aufmerksamkeit zu tun hat, die ihm durch das Treffen von Potsdam zuteil wurde.25
Treibeis auf Telegram: Viral gehende Posts
Bei der Analyse der meistgesehenen Beiträge fällt auf, dass solche von Verschwörungsideolog*innen relativ hohe Reichweiten erzielen konnten. Vor allem Beiträge von etablierten Kanälen wie AUF1 und dessen Chefredakteur Stefan Magnet sowie von Eva Herman und Lion Media verzeichnen absolute Reichweiten im sechsstelligen Bereich, insbesondere durch die Skandalisierung tagesaktueller Ereignisse wie den Anschlag auf den slowakischen Premier Robert Fico. Aber auch im Kontext der Corona-Desinformation erreichen Nachrichten viele User*innen. So verzeichnet eine Nachricht zur Aufhebung der Duldungspflicht von Soldat*innen der Bundeswehr, die nicht gegen Covid geimpft sind, vom bereits erwähnten Tom Lausen über 600.000 Aufrufe. Rechtsextreme und -populist*innen bilden größere Reichweitencluster als Neonazis, Reichsbürger und neurechte Kanäle. Nachrichten von Preppern – vorrangig Hinweise auf Blackouts – erzielen insgesamt wenige Views. Setzt man die Views jedoch in Relation zu den Abos der Kanäle, fällt auf, dass sich Nachrichten mit Werbecharakter überdurchschnittlich verbreiten. Neben Petitionen und vermeintlichen Skandalmeldungen sind dies häufig solche, die auf eigene Kulturprodukte verweisen – mehrere davon verlinken auf YouTube oder Odysee.
In der Gesamtschau lässt sich festhalten, dass wir es mit nur kleineren Verschiebungen im von uns beobachteten Bereich zu tun haben. Auffällig ist die Tendenz, dass insbesondere jene, die sich über eigene Formate auf Telegram oder anderen Plattformen verdient gemacht haben, zunehmend von größeren Sendern aufgenommen werden, etwa als Werbeträger*innen, Einpeitscher*innen oder Videokolumnist*innen. Dies ist etwa der Fall bei solchen Influencern wie Miro Wolfsfeld oder Björn Banane, die nun stärker für die AfD werben und auch vermehrt für Videoformate bereitstehen. AUF1 hingegen profitiert von den YouTube-Followern eines Timm Kellner und nimmt so nun auch ein Format in sein Programm, das aus dem klassischen Verschwörungsangebot des Senders herausfällt. Dies vermittelt den Eindruck, dass es stärkere monetäre Anreize gibt, sich mit eigenen Formaten in den Vordergrund zu spielen und breite Communities aufzubauen, die dann leichter in die digitalen Sender transportiert werden können. Kreative Videos sind so eine wahrscheinlichere Quelle, in den Kosmos aufgenommen zu werden.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Frühjahr 2024: Politiker*innen im Visier, Europawahl im Fokus«, in: Machine Against the Rage, Nr. 6, Sommer 2024, DOI: 10.58668/matr/06.1.
Verantwortlich: Christian Donner, Harald Sick, Michael Schmidt, Holger Marcks, Maik Fielitz, Wyn Brodersen.
Für tiefere Einblicke in die Netzwerk- und Themenentwicklungen kann unser Prototyp von D-REX+ besucht werden, unser Datenthesaurus zu Rechtsextremismus & Co. im Netz.
- Der dramatische Eindruck wurde zudem durch die Ergebnisse zeitgleicher Kommunalwahlen bestätigt; siehe »Kommunalwahlen: Siegeszug für die AfD im Osten«, auf: Tagesschau, 10. Juni 2024, online hier.
- Auch wenn der Umstand, dass die Parteien, die für den Kampf gegen rechts stehen (SPD, Grüne, Linkspartei) seit Beginn des Jahres, als die AfD ihren Zenit in den Umfragen hatte, eher verloren und das neue BSW Punkte gemacht hat, nahelegt, dass die Blauen v.a. an die neue Partei abgeben musste, lässt sich das nicht mit Bestimmtheit sagen. Kritiker*innen dieser Annahme verweisen auf die erhobenen Wählerbewegungen zwischen den Europawahlen, wonach BSW-Wähler*innen bei der letzten Wahl v.a. SPD und Linkspartei gewählt haben. Dies blendet allerdings aus, dass sich seit 2019 bis zum Umfragehoch der AfD einiges getan hat und die Partei ihre Popularität mehr als verdoppelt hatte, zwischenzeitlich also Wähler*innen von anderen Parteien abgezogen hatte. Für eine Klärung der Frage wäre es daher nötig, BSW-Wähler*innen repräsentativ zu befragen, ob sie zwischenzeitlich eine AfD-Wahl erwogen haben.
- Siehe dazu etwa Jürgen P. Lang, »Europawahl 2024: Arbeiterpartei AfD – die Jugend wählt rechts«, auf: Bayerischer Rundfunk, 11. Juni 2024, online hier.
- Siehe dazu Christian Fuchs & Robert Pausch, »Schlüttsiel: Wer organisierte die Blockade gegen Habeck?«, in: Zeit, 10. Jan. 2024, online hier; sowie Benno Stieber, »Bauern-Attacke auf Grünen-Aschermittwoch: Juristisches Nachspiel in Biberach«, in: Taz, 21. Feb. 2024, online hier.
- Siehe exemplarisch Astrid Geisler u.a., »Unterwanderung der Bauernproteste: Die Kaperfahrt«, in: Zeit, 8. Jan. 2024, online hier; sowie Gabriele Scherndl, »Die sogenannte Unterwanderung: Wie Rechte und Verschwörungsideologen die Bauernproteste für sich nutzen«, auf: Correctiv, 29. Jan. 2024, online hier.
- Siehe etwa »Gewaltsame Übergriffe Dutzende Attacken gegen Politiker – AfD am stärksten betroffen«,in: Spiegel, 22. Aug. 2019, online hier.
- Siehe exemplarisch etwa Alexandra Hilpert, »Hass gegen Grüne. Brandmauer braucht Feminismus«, in: Taz, 15. Feb. 2024, online hier.
- Vgl. dazu auch Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Lisa Bogerts & Pablo Jost, »Five Shades of Hate. Gruppenbezogene Abwertung in Zeiten der Memefizierung«, in: Machine Against the Rage, Nr. 5, Winter 2024, online hier.
- Dieser Umstand spiegelt sich auch in den sogenannten Potentialanalysen wider, wo die Grünen und die Blauen durchgehend die höchsten Werte bei der Frage haben, welche Partei man sich grundsätzlich gar nicht vorstellen kann zu wählen; vgl. dazu etwa das Archiv von INSA Consulere, online hier.
- Siehe dazu die Zahlen aus der Antwort der Bundesregierung vom 26. Jan. 2024 auf eine Kleine Anfrage von AfD-Abgeordneten, online abrufbar hier.
- Siehe »Schlägertrupp attackiert Politiker: ›Neue Dimension antidemokratischer Gewalt‹« auf: WDR, 6. Mai 2024, online hier.
- Siehe Attacke auf Islamgegner. Polizist stirbt nach Messerangriff auf Marktplatz in Mannheim, in: Spiegel, 2. Juni 2024, online hier.
- Siehe »Neue Attacke in Mannheim: AfD-Politiker Koch mit Teppichmesser angegriffen«, in: Tagesspiegel, 5. Juni 2024, online hier.
- Siehe dazu Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Chas Critcher, »Der Flugsandeffekt. Wie ein Disco-Hit zum Glücksfall für die extreme Rechte wurde«, in: Machine Against the Rage, Nr. 6, Sommer 2024, online hier.
- Dazu etwa AfD-Chefin Alice Weidel: »Mit ihrer Hetze gegen die Opposition schaffen Ampel und Medien ein Klima, in dem selbst vor extremen körperlichen Attacken nicht mehr zurückgeschreckt wird«; zitiert in: Anna-Lena Schlitt & Tilmann Steffen, »Messerangriff: Was über den Angriff auf einen AfD-Kandidaten in Mannheim bekannt ist«, in: Zeit, 5. Juni 2024, online hier.
- Siehe Das NETTZ, Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, HateAid und Neue deutsche Medienmacher*innen als Teil des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz (Hg.), Lauter Hass – leiser Rückzug. Wie Hass im Netz den demokratischen Diskurs bedroht. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung, Berlin 2024, online abrufbar hier, S. 38–39 u. 77. Auch hier ist zu berücksichtigen, dass das Empfinden, was als erfahrener Hass gilt, in den Milieus variieren kann.
- Siehe dazu den methodischen Annex zu dieser Ausgabe.
- Siehe Thomas Laschyk & Sophie Scheingraber, »RKI-Files: Wie Medien auf die Querdenker-Inszenierung hereinfielen«, auf: Volksverpetzer, 28. März 2024, online hier.
- Das Monitoring endete Ende Mai, so dass die Vorfälle in Mannheim in die Analyse nicht mehr mit einfließen konnten.
- Siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Critcher, »Flugsandeffekt«.
- Ulrike Lausen & Tom Lausen, Die Untersuchung. Drei Jahre Ausnahmezustand: Ein wegweisendes Gespräch mit künstlicher Intelligenz (Augsburg: Achgut Edition, 2024).
- Wir haben für die neue Ausgabe Änderungen in der bisherigen Themenzuteilung vorgenommen; siehe dazu den methodischen Annex.
- Siehe Ellen Ehni, »ARD-DeutschlandTrend: Sicherung von Frieden entscheidend bei EU-Wahl«, auf: Tagesschau, 30. Mai 2024, online hier.
- Ähnliche Entwicklungen verzeichnet auch der Digitalreport des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig; siehe Johannes Kiess & Gideon Wetzel, Die extrem rechte Telegram-Szene während des sächsischen Kommunalwahlkampfes 2024 (EFBI Digital Report 2024-2), online abrufbar hier.
- Siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Critcher, »Flugsandeffekt«.