Der Flugsandeffekt: Wie ein Dance-Hit zum Glücksfall der extremen Rechten wurde
Seit der Veröffentlichung eines Partyvideos von der Insel Sylt erhitzt ein Elektro-Track die Gemüter: »L’amour toujours« von Gigi d’Agostino. Schon seit Herbst 2023 ist der Millenium-Hit öfters in Online-Videos zu hören – übertönt mit der xenophoben Parole »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus«, meist gefolgt von Empörung in digitalen Räumen. Mit dem Sylt-Video erreichte diese eine neue Qualität, so wie auch der Song eine verstärkte Verbreitung fand: als solcher und als ausländerfeindliches Meme. Inwiefern der Umgang mit dem Ohrwurm unter dem Gesichtspunkt einer moralischen Panik betrachtet werden kann, die zur (digitalen) Diffusion jenes Memes potentiell beiträgt, behandeln wir in unserer Blitzanalyse mit dem Kommunikationswissenschaftler Chas Critcher.
Kampen, 23. Mai 2024: Vor einem Edel-Lokal auf der Düneninsel Sylt entsteht ein Video, das junge, gut situierte Menschen beim Trinken und Feiern zeigt. Ausgelassen singen sie zum Chorus von Gigi D’Agostinos Klassiker »L’amour toujours« einen Slogan, mit dem in den 1990er Jahren Neonazis gewalttätige Pogrome gegen Migrant*innen angestiftet hatten. Ein Mann deutet dabei sogar den Hitlergruß an. Innerhalb kürzester Zeit verbreitet sich die Videosequenz über die sozialen Medien, insbesondere auf TikTok, und katapultiert die Beteiligten ins bundesdeutsche Rampenlicht. Die Tagesschau berichtet, der Kanzler und andere Politiker*innen kommentieren, die Polizei ermittelt, die Arbeitgeber*innen und Universitäten reagieren. Die moralische Ächtung der Protagonist*innen ist deutlich. Über mehrere Wochen hinweg ist der Vorfall ein öffentliches Thema; auch die Verbannung des Songs als Ganzes, etwa von öffentlichen Veranstaltungen, wird diskutiert. Das Ende vom Lied ist aber: Sowohl Tune als auch Slogan wurden neues Leben eingehaucht.
Nicht nur fand der Song nach zwei Jahrzehnten in die Charts zurück.1 Auch wurden vermehrt ähnliche Vorfälle gemeldet und in den sozialen Medien gezeigt.2 Zuletzt reichte schon die bloße Melodie als Referenz, etwa auf Querdenken-Demos und EM-Fanmärschen;3 auch auf Merchandise-Artikeln4 und Häuserwänden finden sich Anspielungen auf sie. Sie ist zu einer provokanten Chiffre geworden, entweder für Ausländerfeindlichkeit oder zumindest die Ablehnung der etablierten Politik. Auch international hat sie sich als solches Erkennungszeichen verbreitet.5 In den sozialen Medien lässt sich mitunter vernehmen, dass wir es hier mit dem Streisand-Effekt zu tun haben. Allerdings wurde hier keine Information zu unterdrücken versucht, die dadurch erst recht Aufmerksamkeit erhielt, wie es jener Effekt beschreibt.6 Vielmehr wurde der Vorfall ja umfassend thematisiert, die Information also aktiv gestreut. Begegnet werden sollte durch die Skandalisierung der kulturellen Praxis, den Song mit einer xenophoben Parole zu belegen. Dass diese damit Aufmerksamkeit bekommt, ist einer solchen (negativen) Berichterstattung implizit. Dass sie aber eine Diffusion erfährt, also affirmativ nachgeahmt wird, ist eine anders gelagerte Dynamik. Da es dafür noch keine Bezeichnung gibt, wollen wir sie hier Flugsandeffekt nennen. Was die Mechanismen sind, die ihn konstituieren, soll im Folgenden rekonstruiert werden.
Die (rechte) Firma dankt: Aufmerksamkeit durch Skandalisierung
Das Problem beschäftigt Zivilgesellschaft wie auch Rechtsextremismusforschung schon länger: Im digitalen Kontext kann die strategische Interaktion mit rechtsextremen Inhalten leicht zu ihrer Verbreitung beitragen. Am meisten diskutiert ist hierbei sicherlich der Aspekt, dass in der algorithmisch kuratierten Online-Welt Inhalte mit Sichtbarkeit belohnt werden, mit denen viel interagiert wird.7 Ob im Positiven oder im Negativen. Auch explizite Gegenrede wirkt so daran mit, dass sich für die Inhalte, denen da widersprochen wird, die Öffentlichkeit erweitert: Man wird unweigerlich zu ihrem Prosumenten.8 Das gilt nicht nur für konkrete Posts, sondern auch für Informationen generell, die in den sozialen Medien thematisiert werden. Personen und Organisationen, ihre Handlungen und ihre Ideen, können dadurch, dass sie in der digitalen Öffentlichkeit skandalisiert werden, sehr viel Aufmerksamkeit bekommen. Zumal sich die herkömmlichen Medien zunehmend der sozial-medialen Logik anpassen und digitale Debatten spiegeln.9
Im Umgang mit dem Rechtsextremismus kommt es immer wieder zu digitalen Ereignissen, die seinen Akteuren und Inhalten Aufmerksamkeit bringen. Die Skandalisierung der Anwesenheit von Jungeuropa auf der Frankfurter Buchmesse 2021 etwa brachte dem neofaschistischen Kleinverlag eine größere Bühne, als er sich von einem Bücherstand erhoffen konnte.10 Auch die Aufregung rund um das rechtsextreme Treffen in Potsdam hatte Anfang dieses Jahres den Begleiteffekt, dass Martin Sellners Remigrationskonzept vielen bekannt wurde und sich sein Buch stärker verkaufte.11 Ähnliches gilt für die Aufregung um den Podcast von »Hoss & Hopf«, dem eine rechtsextreme Indoktrination Jugendlicher vorgeworfen wurde.12 Oder man denke an die Debatte um den Song »Layla«: Die Versuche, ihn als sexistisch zu verbannen,13 führten zu einer Trotzreaktion: Er wurde zu einer Art Protestsong auf den Dorffesten.14 Gerade dieses Beispiel zeigt, dass das Problem über die bloße Steigerung von Aufmerksamkeit hinausgeht. Der Umgang mit problematischen Inhalten kann selbst als problematisch empfunden werden, Reaktanz hervorrufen – und auch Sympathie mit dem Gegenstand erzeugen.
Insbesondere Politiken der Ächtung sind stets inhärent umstritten.15 Sie können Widerspruch auch bei Leuten hervorrufen, die die beanstandeten Inhalte gar nicht teilen, aber die Reaktion darauf unverhältnismäßig, kontraproduktiv oder gar anti-demokratisch finden.16 Dadurch entsteht eine weitere Ebene der Kontroverse, die auf die Frage nach der Interpretation des eigentlichen Gegenstands obendrauf kommt – vor allem, wenn dieser mit vielseitigen Anspielungen, Doppeldeutigkeiten und/oder Überspitzungen arbeitet. Geht so ein Stück in Form etwa eines Memes viral, trifft es in der digitalen Öffentlichkeit auf ganz unterschiedliche Rezipient*innentypen, die es verschieden deuten.17 Mit dem Fall des nazifizierten Elektro-Tunes liegt nun solch ein Meme vor, wo sowohl der Inhalt als auch der Umgang Anlass zum Konflikt bieten. Es lässt sich daran nachvollziehen, welche Mechanismen wirken, wenn die Aufregung über rechtsextreme Inhalte und Praktiken zu deren Diffusion beiträgt – und lernen, wie ein klügerer Umgang aussehen könnte.
La haine toujours: Die Nazifizierung eines Elektro-Tunes
Die Verbreitungsdynamik ist augenfällig nicht das Resultat einer strategischen Kampagne. Schon lange ist die Überschreibung von »L’Amour toujours« mit der Parole »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« eine Art Insider im ostdeutschen Rechtsextremismus.18 Doch erst, als im Oktober letzten Jahres ein Video aus einer Diskothek im mecklenburgischen Bergholz online die Runde machte, wurde die Praxis einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Gewiss, in der extremen Rechten gibt es Akteure, die mit kulturellen Praktiken gezielt versuchen, eine politische Anschlussfähigkeit herzustellen.19 In diesem Falle aber gibt es keine Hinweise, dass die digitale Verbreitung strategisch forciert wurde, wie etwa die Hashtagkampagne zum »Stolzmonat« vor einem Jahr.20 Zweifellos aber griffen Rechtsextreme das Meme dankbar auf, nachdem es seine Eigendynamik entwickelt hatte. Die Verbreitung hat also einen hohen Anteil an Spontanaktivitäten und wäre in diesem Ausmaß nicht denkbar ohne die kritische Thematisierung in den sozialen und auch herkömmlichen Medien.
Mit Bergholz wurde eine erste Welle losgetreten. Sie beinhaltet sowohl einige Fälle der Emulation (mal ernst, mal ironisch) als auch manche Berichte über genau solche Fälle. Nach Sylt wurden diese auch in Listen und Karten erfasst, die eine stetige Zunahme solcher Vorfälle vermuten lassen.21 Anzumerken ist hier jedoch, dass eine solche Zunahme zwar nahe liegt, derlei Listen dies aber nicht unbedingt belegen, da es sich lediglich um Fälle handelt, die (polizeilich) gemeldet wurden. Streng genommen belegen sie also nur, dass es zu einem Anstieg von Meldungen gekommen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich (teilweise) um einen Effekt der Skandalisierung handeln kann, insofern durch die Berichterstattung eine erhöhte Wachsamkeit entstanden sein mag, die zu mehr Meldungen führt. In jedem Fall reiht sich der Vorfall auf Sylt ein in eine Serie von Vorfällen und sticht lediglich aufgrund des sozialen Settings heraus.22 Die folgende Empörung, die eine zweite Welle auslöste und das Ganze auf ein neues Level hievte, ist also durchaus erklärungsbedürftig.
Zeitliche Verbreitung relevanter Hashtags und Song-IDs auf TikTok (Erklärung hier).
Der Sylter Vorfall löste eine Verselbständigung der Verbreitung aus. Denn durch die Omnipräsenz des Videos und das Ausmaß der Empörung wurde der Song als ultimative Provokation attraktiv. Die xenophobe Parole musste dabei nicht einmal mehr gesungen werden, um als »Remigrationshymne« erkannt zu werden, wie es Sellner nennt.23 Ein »Döp Dö Dö Döp« genügte schon bald, um die Empörung weiter zu triggern. Dass diese Dynamik nicht mehr einzufangen war, zeigt sich denn auch in Forderungen nach einer Verbannung des Songs an sich. Oder auch in den Versuchen der Schadensbegrenzung, indem man die Melodie mit einem alternativen Text überschreibt, um einen Gegenohrwurm zu schaffen oder dem Ganzen seinen Ernst zu nehmen.24 Und doch ist momentan kaum vorstellbar, dass der Disco-Hit sich von seiner politischen Konnotation wieder befreien kann. So steht er nicht nur für eine rechtsextreme Botschaft, sondern auch für eine Haltung zu den Reaktionen, die auf Sylt folgten. Er ist eine vielschichtige Chiffre geworden. Das zeigt auch unsere Datenanalyse auf TikTok, wonach das Meme mit verschiedenen politischen Themen verbunden wird.
Überbordende Wachsamkeit? Aspekte einer moralischen Panik
Tabus wohnt eine Tendenz inne, zur Verbreitung des anrüchigen Gegenstands anzuregen. Die Jugendforschung beschäftigt das schon lange.25 Hier geht es aber um mehr als den juvenilen Reiz des Verbotenen. Während manche sich tatsächlich mit der xenophoben Dimension des Memes identifizieren mögen, mag er anderen Ausdruck einer Ablehnung der Politik sein, für die der Umgang mit dem Sylter Vorfall steht. Dies kann etwa an allgemeine Debatten über eine vermeintliche Verbotskultur anknüpfen oder sich ganz konkret auf die Ächtung der Beteiligten und das starke Eingreifen von Medien und Politik beziehen, das als ideologischer Eifer wahrgenommen wird. Tatsächlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass im Kontext des ausgerufenen Kampfs gegen rechts eine besondere Wachsamkeit an den Tag gelegt und mitunter eingefordert wird. Es stellt sich daher die Frage, ob wir es mit einer Art Überreaktion zu tun haben, die anderen als unverhältnismäßig gilt und damit Anlass zur Gegenempörung gibt. Für eine konzeptionelle Orientierung haben wir daher mit Chas Critcher über das Phänomen der moralischen Panik gesprochen, das für kollektive Überreaktionen steht.
Chas Critcher ist emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaften an der Sheffield Hallam University, Großbritannien. Er studierte und arbeitete am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham. Seine Arbeit gilt moralischen Paniken zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten, um herauszufinden, wie moderne Gesellschaft das moralische Verhalten ihrer Bürger*innen regulieren. U.a. verfasste er Moral Panics and the Media (2003).
Moralische Paniken gelten als hysterische Massenreaktion auf soziale Probleme – wie setzen sich solche Empörungswellen zusammen?
Für moralische Paniken ist es typisch, dass bestimmte Gruppen als Moralwächter aktiv werden und drastische Maßnahmen zur Lösung eines Problems fordern. Sie kreisen um Erzählungen darüber, was in der Gesellschaft passiert sei, so dass das Problem besteht. Diese Behauptungen über eine Bedrohung können ganz unterschiedlich sein, was die Art der Täter und Opfer betrifft, und auch die beteiligten Gruppen und ihre Motive sind sehr verschieden; aber der Prozess des Claim Making ist stets recht ähnlich. Dabei sehen wir ein dynamisches Zusammenspiel zwischen vier Gruppen: Regierungen und politischen Entscheidungsträgern, Massen- und anderen Medien, Interessen- und Aktionsgruppen sowie der öffentlichen Meinung. Die genauen Beziehungen zwischen ihnen variieren je nach moralischem Thema und historischem Kontext. So kann sich die Panik nach unten ausbreiten, etwa von der Regierung zur Öffentlichkeit, oder nach oben, von der Öffentlichkeit zur Regierung. Grundsätzlich scheinen moralische Paniken aber am häufigsten in der Mittelschicht zu gedeihen, die mehr als andere soziale Klassen zur Empörung neigt. Man kann diese Tendenz auch als moralischen Kreuzzug bezeichnen: ein Drang, gegen die scheinbare Verletzung grundlegender Moralvorstellungen zu protestieren. Deshalb beinhalten moralische Paniken stets auch die Wiederholung der eigenen moralischen Werte, die verteidigt werden sollen, indem die Verantwortlichen der Bedrohung geächtet werden oder die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Dieses Virtue Signaling ist der eigentliche Antrieb von moralischen Paniken. Es ist daher zweitrangig, ob die Strategie tatsächlich funktioniert. Es genügt, wenn das Problem scheinbar gelöst wurde. Eine symbolische Lösung kann ausreichen, damit die Panik zumindest für eine Weile abklingt.
Bedrohungslagen werden also konstruiert und aufgeblasen – wie kommt es, dass die zur Faktenprüfung verpflichteten Medien da mitspielen?
Moralische Paniken beruhen selten auf völlig falschen Behauptungen; sie haben normalerweise einen realen Kern. Aber seine Interpretation ist eine verzerrte. Solche Paniken beruhen also hauptsächlich auf Übertreibung. Deshalb ist es auch grundsätzlich möglich, sie auf empirischer Grundlage herauszufordern. Bei Wellen, wo es etwa um Kriminalität geht, geschieht dies immer wieder. Wenn etwa behauptet wird, dass das Aufkommen eines bestimmten Verbrechens drastisch zugenommen habe oder bestimmte, meist minoritäre Gruppen mehr Straftaten begingen, können dem Fakten entgegengesetzt werden. Wenn diese von einer neutralen Organisation sorgsam zusammengetragen wurden, kann das sogar wirken. Aber nur bedingt. Denn bei solchen Paniken handelt es sich um einen Ausdruck dessen, was Menschen ängstlich macht: eine emotionale Reaktion, die auf Wahrnehmungen und Gefühlen basiert – und nicht auf kriminologischen Statistiken. Und wenn Menschen sehr starke Gefühle zu einem Thema haben, fühlt sich die Medienwelt verpflichtet, darüber zu berichten. Dabei können manche Medien die moralische Empörung bekräftigen und verstärken; nicht selten sind sie entscheidend für die Legitimation einer Panik, ebenso wie (vermeintliche) Expert*innen, die die »Wahrheit« zum Thema zu kennen meinen. Hier zeigt sich eine Analogie zum Verschwörungsdenken: Aufgrund der Rahmung ist es schwer, die Dynamik zu hinterfragen. So können etwa Akademiker*innen verleumdet und bedroht werden, wenn sie bestimmte Behauptungen in Frage stellen. Gelegentlich werden die Behauptungen nach langer Zeit untersucht und als weitgehend oder vollständig ungenau entlarvt. Aber dann ist es zu spät. Der Schaden, insbesondere für die rationale Diskussion, ist bereits angerichtet.
Historisch dienen moralische Paniken der Repression abweichenden Verhaltens – inwiefern verändert sich ihre Funktion im digitalen Kontext?
Moralische Paniken zielen darauf ab, eine moralische Ordnung zu schützen. Es geht nicht um wirtschaftliche oder politische, sondern um moralische Stabilität. Gruppen und Einzelpersonen, darunter Prominente und Medienakteure, geben dabei vor, uns vor dem Bösen zu retten, wobei sie Druck auf die politische Klasse ausüben, Maßnahmen zu ergreifen. Als das Konzept der moralischen Panik in den 1970ern entwickelt wurde, waren die herkömmlichen Medien die hauptsächliche Arena, wo die öffentliche Meinung dafür mobilisiert und artikuliert wurde. In den letzten zwanzig Jahren haben aber soziale Medien die Medienlandschaft verändert und vielen die Teilnahme an Diskussionen über allerlei moralische Fragen ermöglicht. Dadurch kommt eine breitere Palette von Ansichten in der Öffentlichkeit zum Ausdruck. Die Entstehung und Entwicklung moralischer Paniken dürfte dies beeinflusst haben. Womöglich werden sie stärker durch andere Meinungen angefochten und sind weniger in der Lage, eine allgemein akzeptierte Interpretation der Bedrohung zu etablieren. Es kann auch sein, dass sie ein fruchtbarer Boden für die Entstehung neuer Paniken sind. Darüber ist momentan schwer zu urteilen; es erfordert Empirie zu der komplexen Frage: Wo wurde die Entwicklung einer Panik in den sozialen Medien gestartet und legitimiert – und wo herausgefordert und delegitimiert? Als Faktor zu berücksichtigen ist auch, inwieweit die politische Klasse die Meinungen in den sozialen Medien berücksichtigt. Obwohl immer weniger Menschen Zeitungen lesen oder Fernsehnachrichten schauen, bleibt jene Klasse hochsensibel für deren Botschaften. Interessengruppen sind sehr aktiv in den sozialen Medien, aber bei moralischen Paniken kommt es immer noch darauf an, ob sie auch Politiker*innen erfassen.
Das Ende vom Lied: Vom Winde nach rechts gedreht
Mit der Popularisierung des einstigen Insider-Memes geht eine Normalisierung ausländerfeindlicher Klänge einher: für die extreme Rechte ein Glücksfall.26 Grundlegend dafür ist, dass die kulturelle Praxis durch die (negative) Berichterstattung überhaupt erst größere Aufmerksamkeit zukam, was jedoch nicht mit dem Streisand-Effekt zu verwechseln ist.27 Eine Diffusion im eigentlichen Sinne findet erst mit der aktiven Reproduktion jener Praxis statt, die verschieden motiviert sein kann. Dass hier rechtsextreme Einstellungen ein Vehikel gefunden haben, um ungenierter in die Öffentlichkeit posaunt zu werden, ist selbsterklärend. Darüber hinaus mögen einige darin eine effektive Provokation sehen bzw. damit eine Anti-Haltung zum Ausdruck bringen. Gerade zugespitzte Parolen werden von den meisten ihrer Nutzer*innen nicht buchstäblich verstanden; primär fungieren sie als Schlachtruf, über den sich das (kommunikative) Handeln gegen politische Gegner koordiniert.28 Der wiederum kann (ungewollt) Anreize für diese Form der Gemeinschaftsbildung geben. Denn Diffusion ist häufig auch davon getrieben, dass Akteure ex negativo Zuschreibungen der Gegenseite übernehmen bzw. sich mit dem identifizieren, was diese ablehnt.29
Durch starke Ächtung kann es daher zu einer Aufwirbelung kommen: Akteure mit eigentlich unterschiedlichen Einstellungen finden dann in der Ablehnung jener Ächtung einen gemeinsamen Nenner. Wie Flugsand werden sie angehoben und in dieselbe Richtung bewegt, wobei weitere Aufwirbelungen entstehen: eine dynamische Kettenreaktion, an deren Ende eine Ablagerung steht, sich also etwas in der diskursiven Landschaft verlagert hat. In unserem Fall ist die Skandalisierung von Sylt der Initialimpuls. Sie amplifiziert nicht nur das Meme, sie erzeugt auch selbst Kontroverse, wodurch der Gegenstand immer wieder aufgerufen und die Aufwirbelung am Laufen gehalten wird. Das skandalöse Moment der kulturellen Praktik wird dabei relativ insofern, als auch die Reaktion ihre anstößigen Momente hat. Insbesondere wird sie von vielen als unverhältnismäßig kritisiert.31 Immerhin geht es um ein kleines lokales Ereignis, an dem nur unbedeutende junge Menschen beteiligt waren. Dass darüber Hauptnachrichten berichten,32 die Beteiligten von Medien und Politik an den Pranger gestellt und soziale und berufliche Konsequenzen gefordert werden, ist durchaus kritikabel. Zumal es hier zwar um eine hässliche Parole geht, ihre Strafbarkeit aber nicht eindeutig ist.33
Durchaus lassen sich in der Ächtung von Sylt Aspekte einer moralischen Panik erkennen. Dass der Diskurs in den emotionalen Räumen der sozialen Medien zu solchen Überreaktionen neigt, ist nicht verwunderlich.34 Dass sich aber Medien und Politik in diese Massendynamik einfügen, ist entscheidend für eine empfundene Unverhältnismäßigkeit.35 Und damit auch für die folgende Trotzreaktion, die in der überbordenden Wachsamkeit Anlässe zur Gegenempörung findet. Hier ist, wie bereits woanders angemahnt, mehr Contenance gefragt.36 Denn nicht nur aus strategischen Gründen ist zu erwägen, wo eine Skandalisierung wirklich zweckdienlich ist;37 es ist auch zu fragen, ob hier journalistische und politische Standards gewahrt bleiben. Immerhin dienen Normen wie die mediale Informationshierarchie, das Sachlichkeitsgebot oder der Schutz der Person auch der demokratischen Integrität. Insbesondere kann da bezweifelt werden, ob der lokale Vorfall auf Sylt – als einzelnes Ereignis – landesweit nachrichtenrelevant ist.38 Das kulturelle Phänomen jenes Memes, d.h. die Summe der Vorfälle, ist durchaus von öffentlichem Interesse und sollte als solches auch thematisiert werden. Zur Begegnung von strafrechtsrelevanten Handlungen einzelner Bürger*innen hat der Rechtsstaat aber andere Mittel als die soziale Ächtung. Auf den öffentlichen Pranger zu verzichten, dürfte zumindest den geschilderten Flugsandeffekt dämpfen. Ob man diesen in Kauf nimmt, weil man sich noch andere, positive Effekte der Ächtung erhofft, steht auf einem anderen Blatt.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Chas Critcher, »Der Flugsandeffekt. Wie ein Disco-Hit zum Glücksfall für die extreme Rechte wurde«, in: Machine Against the Rage, Nr. 6, Sommer 2024, DOI: 10.58668/matr/06.3.
- Siehe »Single-Charts: Pashanim auf 1, ›L’amour toujours in Top 10‹«, auf: Offizielle Deutsche Charts, 31. Mai 2024, online hier.
- Siehe Greta G. Spieker, »L’amour toujours mit rechten Parolen. Wie oft die Polizei seit dem Sylt-Video gerufen wurde«, auf: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 10. Juli 2024, online hier.
- Siehe Niko Schmook, »Bei Fanmarsch durch Stuttgart: Ungarn-Fans stimmen ›L’Amour toujours‹ an und zeigen ›Free Gigi“-Banner‹«, in: Tagesspiegel, 19. Juni 2024, online hier. Bemerkenswert ist hier zudem, dass der Song an sich in einigen Milieus zum Feierrepertoire gehört, so auch im Umfeld der österreichischen Nationalmannschaft; siehe dazu »Vor EM-Spiel gegen die Türkei: Österreichische Fans singen ›Ausländer raus‹«, auf: ZDF, 3. Juli 2024, online hier. Das verweist auf Folgeprobleme, die daraus resultieren können, dass der Song nun unter Verdacht steht.
- Nicht nur werden T-Shirts und Sticker über Amazon vertrieben, sondern auch über diverse politisch extreme Warenhändler wie den neonazistischen Sturm 18, den Shop des Senders AUF1 oder auch des rechtspopulistischen Influencers Timm Kellner.
- Siehe Daniel Wehrend & Jan Rau, »›L’amour toujours‹: Vom Liebeslied zum Erkennungszeichen der rassistischen Internationalen«, auf: Hypotheses, 27. Juni 2024, online hier.
- Zum Streisand-Effekt als Phänomen, wo es um die ungewollte Verbreitung von Informationen geht, siehe Sue Curry Jansen & Brian Martin, »The Streisand Effect and Censorship Backfire«, in: International Journal of Communication, Bd. 9 (2015), S. 656–671.
- Siehe dazu Taina Bucher, »Want to Be on the Top? Algorithmic Power and the Threat of Invisibility on Facebook« in: New Media & Society, Nr. 7, Jg. 14 (2012), S. 1164–1180.
- Siehe dazu grundlegend Alvin Toffler, The Third Wave. The Classic Study of Tomorrow (New York: Bantam, 1980); vgl. auch Maik Fielitz & Holger Marcks, Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus (Berlin: Dudenverlag, 2020), S. 154.
- Zur Logik der sozialen Medien siehe José van Dijck & Thomas Poell, »Understanding Social Media Logic«, in: Media and Communication, Nr. 1, Jg. 1 (2013), S. 2–14; zum sozialmedialen-medialen Spillover siehe Christoph Neuberger, »Soziale Medien und Journalismus«, in: Jan-Hinrik Schmidt & Monika Taddicken, Handbuch Soziale Medien (Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2020), S. 1–21.
- Siehe Maik Fielitz & Holger Marcks, »Rechte Verlage: Für Faschisten ist auch schlechte Presse gute Presse«, in: Berliner Zeitung, 13. Nov. 2021, online hier.
- Siehe Felix Bayer, »›Identitärer‹ Martin Sellner: Wie der Handel mit dem Buch eines Rechtsextremen umgeht«, in: Spiegel, 2. Feb. 2024, online hier.
- Eigenangaben zufolge erhöhten sich die Abos für den Podcast in wenigen Tagen um 30.000 bis 40.000; Hoss & Hopf, »Hat die Medienkampagne ihr Ziel erreicht? – Hoss und Hopf #149«, auf: YouTube, 27. Feb. 2024, online hier. Zum Ausgangspunkt der Debatte siehe Katharina Linau, »Einer der erfolgreichsten Podcasts impft unsere Kinder mit radikalem Gedankengut – und keiner kriegt’s mit«, in: Stern, 11. Feb. 2024, online hier; siehe dazu auch Jan-Frederik. Fischer u.a, »Hoss & Hopf: Das steckt hinter dem Wirbel«, auf: ZDF, 18. Feb. 2024, online hier.
- Siehe Sarah Höger, »Festwirte und Bands in Ostbayern verbannen ›Layla‹ aus Programm«, auf: Bayerischer Rundfunk, 15. Juli 2022, online hier; »Kein ›Layla‹-Verbot auf der Wiesn. Aber Kapellmeister will neuen Text präsentieren«, in: Die Welt, 14. Sept 2022, online hier.
- Siehe Martina Kix, »Klopf, klopf und runter damit. Wie aus ›Layla‹ ein Protestsong wurde«, in: Zeit, 30. Juli 2023, online hier.
- Das macht das Paradoxe an Karl Poppers berühmten Feststellung aus, dass in einer offenen Gesellschaft Intoleranz nicht toleriert werden könne (Toleranz-Paradoxon): Demokrat*innen müssen einerseits anti-demokratische Kräfte ächten, laufen dabei aber stets Gefahr, die Grenzen des Sag- und Machbaren zu eng zu ziehen und damit selbst die offene Gesellschaft zu unterminieren. Politiken der Ächtung sind daher besonders rechtfertigungsbedürftig und notwendigerweise selbst Gegenstand von Kontroversen, da diese Grenzen im Auge des Betrachters liegen.
- Vgl. dazu Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Die Ausweitung der Blauzone. Wie dem Rechtsextremismus die Debatte über seine Eindämmung nutzen könnte«, in: Machine Against the Rage, Nr. 4, Herbst 2023, online hier.
- Vgl. dazu Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Lisa Bogerts & Pablo Jost, »Five Shades of Hate. Gruppenbezogene Abwertung in Zeiten der Memifizierung«, in: Machine Against the Rage, Nr. 5, Winter 2024, online hier.
- Siehe dazu Justus Bender, »›Ausländer raus‹-Gesänge: Mit freundlichen Hitlergrüßen«, in: FAZ, 31. Mai 2024, online hier.
- So haben rechtsextreme Parteien wiederholt versucht, Popsongs für sich zu vereinnahmen. Siehe z.B. »Hit-Missbrauch. Wir sind Helden wehren sich gegen NPD«, in: Spiegel, 1. Sept. 2014, online hier; sowie »›Atemlos‹ im Wahlkampf. Helene Fischer wehrt sich gegen NPD«, in: Spiegel, 4. Apr. 2015, online hier.
- Erwähnenswert ist hierbei, dass es sich auch hier um eine Methode der Überschreibung handelt: Man kaperte den Pride Month, um ihn mit einer eigenen Botschaft zu belegen – in diesem Fall aber tatsächlich durch koordiniertes Handeln, wobei empörte Reaktionen eingeplant waren für die Verbreitungsdynamik; siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Frühling 2023: Rechte Mitmach-Aktion und blaues Umfragehoch«, in: Machine Against the Rage, Nr. 3, Sommer 2023, online hier.
- Siehe exemplarisch Victor Meuche, »›L’amour toujours‹: Ist Sylt überall? Ja, wirklich überall«, in: Zeit, 7. Juni 2024, online hier.
- Ein Triggerfaktor scheint offenbar der soziale Hintergrund der Beteiligten gewesen zu sein, zusammengenommen mit dem Ort des Geschehens: die Ferieninsel der Reichen. Weniger klar ist allerdings, wie dieser Faktor genau gelagert ist. Es könnte einerseits eine Überraschung darüber sein, dass auch Abkömmlinge gehobener Familien für ausländerfeindliche Parolen empfänglich sind; es könnte aber auch sein, dass man gerade darin eine Bestätigung dafür sah, dass Rechsextremismus und Kapital sich gut verstünden, wie es linke Akteure häufiger propagieren, denen Sylt ohnehin als verhasstes Symbol der Dekadenz gilt.
- Martin Sellner, »Autorität und Respekt, oder: #syltistüberall«, in: Sezession, 29. Mai 2024, online hier.
- Zum einen wurde die Melodie des Songs mit weiteren Textzeilen kombiniert, um eine antifaschistische Botschaft zu senden. Zum anderen wurde insbesondere in migrantischen Communities die Melodie persifliert, um auch aus bestimmten Reaktionsmuster auszubrechen. So ist eines der am meisten geklickten TikTok-Videos mit dem Hashtag #ausländermemes versehen.
- Siehe dazu etwa Petra Müller, »Jugendliche und der Reiz des Verbotenen: Eine Analyse von Risikoverhalten und Grenzüberschreitungen«, in: Zeitschrift für Jugendforschung, Nr. 3, Jg. 20 (2022), S. 150–175.
- Als Glücksfall bezeichnet man einen günstigen Umstand für einen Akteur, der sich ohne großes eigenes Zutun eingestellt hat. Dafür, dass die Dynamik rund um den Song nach dem Vorfall auf Sylt das Produkt einer rechtsextremen Kampagne sei, konnten wir keine Hinweise finden; vgl. dazu Fn. 20.
- Siehe dazu Fn. 6.
- Vgl. dazu Michael Bang Petersen, Mathias Osmundsen & Kevin Arceneaux, The »Need for Chaos« and Motivations to Share Hostile Political Rumors (Cambridge: Cambridge University Press, 2023).
- Z.B. wurde die Praxis, Attentate auf Angehörige der herrschenden Klasse zu verüben, Ende des 19. Jahrhunderts von Politik und Medien als anarchistisch verurteilt und bekämpft; dass sich Nachahmer dieser Praxis als Anarchisten sahen, hatte mehr mit dieser (negativen) Zuschreibung zu tun, als dass sie von anarchistischen Inhalten beeinflusst waren; siehe Holger Marcks, »Who’s the Criminal. Anarchist Assassinations and the Normative Conflict About Legitimate Violence«, in: Karl Härter, Tina Hannappel & Jean Conrad Tyrichter (Hg.), The Transnationalisation of Criminal Law in the Nineteenth and Twentieth Century. Political Crime, Police Cooperation, Security Regimes and Normative Orders (Frankfurt a.M.: Klostermann, 2019), S. 99–132.
- Flugsand zeichnet sich dadurch aus, dass lose verteilte Sandkörner aufgewirbelt und in eine gemeinsame Richtung bewegt werden. Durch diese Art Hüpfbewegung werden weitere Sandkörner aufgewirbelt. Es kommt schließlich zu Ablagerungen wie etwa Sanddünen, wie es sie auch auf Sylt gibt.
- Es hat sich dabei auch als Praxis etabliert, Sylt bei allerlei als skandalös empfundenen Ereignissen als Maßstab heranzuziehen und zu fragen, warum diesen nicht auch eine solche Empörung bzw. mediale/politische Aufmerksamkeit zukommt. Hier ein paar repräsentative Beispiele für diese argumentative Struktur: @ben_brechtken | 25. Mai 2024 | 09:31; @argonerd | 1. Juni 2024 | 14:22; @TimKoffiziell | 31. Mai 2024 | 17:48; @ainyrockstar | 24. Mai 2024 | 16:28.
- Siehe insbesondere die »Tagesschau« vom 24. Mai 2024, online hier.
- Dass die Praxis strafrechtlich relevant ist (Stichwort: Volksverhetzung), ist unbenommen; ob sie tatsächlich strafbar und nicht vom Recht auf Meinungsäußerung gedeckt ist, hingegen umstritten. Im Falle von Bergholz zumindest wurde zwar ermittelt, das Verfahren gegen die Beteiligten aber eingestellt; siehe »Erntefest-Eklat: Nazi-Parolen zu L’Amour toujours in Vorpommern nicht strafbar«, in: Nordkurier, 24. Juni 2024, online hier. Im Falle von Sylt ließe sich noch auf Begleitumstände verweisen, die der Parole ein anderes Gewicht geben, wie den angedeuteten Hitlergruß. Gleichwohl träfe dies aber auf nur eine Person und nicht die gesamte Gruppe zu.
- Siehe dazu das Expertengespräch mit Philipp Hübl in: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Philipp Huebl, »Prinzip der böswilligen Interpretation. Empörung als moralisches Kapital im digitalen Lagerkampf«, in: Machine Against the Rage, Nr. 3, Sommer 2023, online hier. Erwähnenswert ist zudem, dass die digitalen Schwärme stärker zu denunziatorischen Praktiken neigen. Im Falle von Sylt dauerte es etwa nur einen Augenblick, bis man versuchte, die Identität der Beteiligten herauszufinden und öffentlich zu machen.
- Erst das Zusammenspiel von Masse, Medien und Politik macht eine moralische Panik mit der entsprechenden Wucht; vgl. dazu den Experteninput von Chas Critcher oben.
- Siehe Manès Weisskircher, »Digitale Contenance statt Triggerpunkte«, Editorial zur Ausgabe Nr. 4 von Machine Against the Rage (Herbst 2023), online hier.
- Die Frage des Zweckdienlichkeit erfordert freilich eine komplexere Betrachtung, die auch weitere mögliche Effekte einschließt, die dem Flugsandeffekt gegenüberstehen. Im Rahmen der Fragestellung hier war das nicht zu untersuchen. In ähnlich gelagerten Fällen der Zukunft sollten aber Medien und Politik diesen Effekt in der Situationsbewertung nicht unberücksichtigt lassen.
- Presseinstitutionen und Nachrichtenorganisationen pflegen Kodizes und Richtlinien, die festlegen, welche Informationen auf welcher geografischen Ebene nachrichtenrelevant sind. Auch wissenschaftlich beschäftigt man sich mit solchen selbst verordneten Filtern, die einen bias in der Berichterstattung vermeiden sollen, so etwa in Johan Galtungs Nachrichtenwerttheorie oder beim Ansatz der Medienökologie. Grundsätzlich gilt es als Standard, dass lokale Ereignisse ohne Beteiligung öffentlicher Personen keine überregionale Relevanz aufweisen. Auch dass die sozialen Merkmale von Beteiligten eine solche nicht begründen, gilt als Usus, wie etwa in der Diskussion über Gewalttaten mit migrantischer Beteiligung häufig betont wird; siehe z.B. Stefan Niggemeier, »Warum die Lügenpresse-Vorwürfe gegen die ›Tagesschau‹ falsch sind«, auf: Übermedien, 5. Dez. 2016, online hier. Dass der soziale Hintergrund der Beteiligten am Sylter Vorfall mitunter als Relevanzkriterium herangezogen wurde (vgl. Fn. 22), lässt sich potentiell als Widerspruch dazu interpretieren.