Maßnahmen gegen Hass im Netz: Das Wichtigste aus dem Sommer 2024
Aktuelle, kommentierte Ereignisse im Kampf gegen digitalen Hass und ausgewählte Publikationen zum Thema. Diesmal im Rückblick auf das letzte Quartal: Depolarisierung durch Algorithmen +++ Good-Practice-Sammlung gegen digitalen Hass +++ Medienpädagogik im Kurzvideo-Format +++ X verändert Blocken grundlegend +++ Schwarzwälder KI-Bildgenerator in den Schlagzeilen +++ Diskussion um Studien mit Facebook-Daten +++ Erster Trusted Flagger Deutschlands ernannt +++ X in Brasilien temporär offline +++ Streitbeilegungsstelle im Rahmen des DSA ernannt +++ Neue Studie zur Senkung von Verschwörungsglauben durch Chatbots, Lexikon zur Identifizierung des (Online)-Antisemitsmus und die Veröffentlichung eines Special Issue zu Online-Hass.
Eine Nachricht aus dem Sommer sorgte weltweit für Aufsehen. Am 24. August wurde Mitgründer und CEO von Telegram, Pavel Durov, bei seiner Ankunft auf einem Flughafen in der Nähe von Paris verhaftet.1 Die Liste der Vorwürfe, die die Staatsanwaltschaft gegen ihn vorbringt, ist lang. Unter ihnen: Beihilfe zum Drogenhandel, Beihilfe zur Verbreitung von Kindesmissbrauchsmaterial und Mittäterschaft in organisierter Bandenkriminalität.2 In diesem Zusammenhang stellt sich die bekannte und kontrovers diskutierte Frage: Welche Verantwortung tragen Plattformen als Intermediäre für die Begehung von (potenziellen) Straftaten? Neu ist, dass erstmals versucht wurde, einen Tech-CEO persönlich haftbar zu machen – eine Aktion mit Signalwirkung. Wenig überraschend solidarisierte sich Elon Musk, der sich häufig als Verteidiger der Rede- und Meinungsfreiheit präsentiert, mit Durov und kommentierte die Verhaftung zynisch: Bald werde man in Europa hingerichtet, wenn man das falsche Meme liked, so Musk.3
Im Gegensatz zu Musk, der nun offen für Donald Trump wirbt und seinen aktuellen Wahlkampf finanziell unterstützt,4 steht Durov fast allen Regierungen kritisch gegenüber und vertritt auch nach außen eine libertäre Haltung. Die Durov-Brüder verließen Russland vor zehn Jahren und verkauften ihren russischen Facebook-Klon vk.com, da ihnen der Einfluss des Regimes auf die Plattform zu groß wurde, wie sie sagen.5 Auch 2019 warb Durov noch dafür, dass Telegram keine Daten an Regierungen herausgibt.6 Versprechen wie diese entfalteten eine Anziehungskraft sowohl für kriminelle Netzwerke als auch für politische Dissidenz jeglicher Couleur. Inzwischen sind der rebellische Ruf und das konspirative Image integrale Bestandteile des Markenkerns. Ob Telegram wirklich so widerspenstig ist, kann jedoch bezweifelt werden. So wirft etwa der Umstand, dass die bei vielen Messengern standardmäßig eingestellte Ende-zu-Ende-Verschlüsselung hier nur eine zusätzliche Option ist, Fragen auf.7 Auch die Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden wurde mittlerweile vom BKA bestätigt.8
Das Bild von Durov als Revoluzzer bröckelt. Selbst mit dem Kreml, so heißt es, habe er sich 2020 in puncto Entschlüsselung für die Geheimdienste geeinigt,9 wenngleich Durov dies zuletzt in einer Stellungnahme anlässlich seiner Inhaftierung in Paris dementierte.10 Dort gab er aber mitunter zu verstehen, dass Telegram kein »anarchistisches Paradies« sei, und kündigte an, mit den Behörden kooperieren zu wollen und Änderungen vorzunehmen.11 Durov kam inzwischen auf Kaution und unter Auflagen frei.12 Die Frage der Verantwortung allerdings bleibt. Künftig gegen Einzelpersonen vorzugehen, wäre juristisch ebenso fragwürdig, wie Plattformen als bloß neutrale Intermediäre zu betrachten. Kritik kommt auch aus netzpolitischen Kreisen. Hier wird gefragt, ob ein Vorgehen unter dem Dach des Digital Services Acts (DSA) nicht sinnvoller gewesen wäre.13 Nachdem Telegram zunächst seine eigenen Zahlen vorgelegt hat, prüft die EU-Kommission nun eigenständig, ob Telegram nicht doch die Voraussetzungen einer Very Large Online Platform (VLOP) erfüllt und damit strengeren Richtlinien unterworfen werden kann.14
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Maßnahmen gegen Hass im Netz: Das Wichtigste aus dem Sommer 2024«, in: Machine Against the Rage, Nr. 7, Herbst 2024, DOI: 10.58668/matr/07.4.
Verantwortlich: Wyn Brodersen, Lena-Maria Böswald.
- Siehe Katja Belousova, »Telegram-Chef: Was zum Fall Durow bekannt ist«, auf: ZDFheute, 27. Aug. 2024, online hier.
- Siehe dazu die Pressemitteilung des Pariser Gerichts: Tribunal de Paris, »Communiqué de presse«, 26. Aug. 2024, online abrufbar hier.
- Siehe @elonmusk | 01:14 | 25. Aug. 2024.
- Siehe Roland Lindner, »Elon Musk hilft Donald Trump mit 75 Millionen Dollar«, in: FAZ, 16. Okt. 2024, online hier.
- Siehe Nelly Keusch, »Telegram-Chef Pawel Durow: Das weiss man über sein Unternehmen«, in: NZZ, 30. Aug. 2024, online hier.
- Siehe @durov | 19:28 | 9. März 2024.
- Siehe Andreas Proschofsky, »Warum Telegram kein verschlüsselter Messenger ist – und wieso das so wichtig ist« in: Der Standard, 27. Aug. 2024, online hier.
- Zuvor ließ Telegram die User*innen über eine Zusammenarbeit abstimmen. Siehe dazu Markus Reuter, »Wieviel Überwachung soll’s denn sein?«, auf: Netzpolitik, 30. Aug. 2022, online hier. Zur Bestätigung der Zusammenarbeit mit derm BKA siehe Manuel Bewarder & Florian Flade, »Telegram liefert Daten an Ermittler«, auf: Tagesschau, 8. Okt. 2024, online hier.
- In diesem Fall ging es um kryptografische Schlüssel geheimer Chats durch russische Geheimdienste. Siehe dazu ausführlicher Eva Wolfangel, »Ein Weltbürger sitzt fest«, in: ZEIT, 26. Aug. 2024, online hier,
- @durov | 22:45 | 5. Sept. 2024.
- Siehe »Erste Änderungen in der App geplant«, in: Tagesspiegel, 6. Sep. 2024, online hier.
- Siehe Andrew R. Chow, »Why the Arrest of Telegram’s Pavel Durov Is Sparking Outrage«, in: TIME, 28. Aug. 2024, online hier.
- Siehe Anna Biselli, »Festnahme mit Risiken und Nebenwirkungen«, auf: Netzpolitik, 27. Aug. 2024, online hier.
- Siehe Andreas Knobloch, »Bericht: EU prüft striktere Einstufung von Telegram«, auf: Heise, 28. Mai 2024, online hier.
- Siehe die reframe[Tech]-Seite online hier.
- Siehe Felix Sieker & betterplace lab, »Brücken bauen statt polarisieren« auf: Reframetech, o.D., online hier.
- Siehe Lisa P. Argyle u.a., »Leveraging AI for Democratic Discourse. Chat Interventions Can Improve Online Political Conversations at Scale«, in: PNAS, Nr. 41, Jg. 120 (2023).
- Siehe die Good-Practice-Sammlung online hier.
- Siehe die Krypto-Kids-Seite online hier.
- Siehe die SwipeAway-Seite online hier.
- Siehe @keine.erinnerungskultur auf TikTok online hier.
- Siehe @elonmusk | 17:25 | 18. Aug. 2023; sowie @elonmusk | 20:33 | 23. Sept. 2024.
- Siehe Emma Roth & Kylie Robison, »X Will Let People You’ve Blocked See Your Posts«, auf: The Verge, 23. Sept. 2024, online hier.
- Siehe dazu die Tests auf ArtificialAnalysis vom 29. Okt. 2024 (online hier), und die eigenen Testungen von BlackForestLabs, »Announcing FLUX1.1 [pro] and the BFL API«, auf: BlackforestLabs, 2. Okt. 2024, online hier.
- Siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Attention Is All They Need. Eine Analyse der Nutzung generativer KI in rechtsalternativen Netzwerken«, in: Machine Against the Rage, Nr. 7, Herbst 2024, online hier.
- Siehe »Grok-2 Beta Release«, auf: xAI, 13. Aug. 2024, online hier.
- Grok ist über X-Premium verfügbar.
- Siehe Maxwell Zeff, »Meet Black Forest Labs, the Startup Powering Elon Musk’s Unhinged AI Image Generator«, auf: TechCrunch, 14. Aug. 2024, online hier.
- Siehe Nicolas Killian, »Sie sind ein Teil von jener Kraft«, in: ZEIT, 27. Aug. 2024, online hier.
- Siehe Silke Wichert, »Gören-Sommer«, in: SZ-Magazin, 23. Juli 2024, online hier.
- Siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Maßnahmen gegen Hass im Netz: Das Wichtigste aus dem Sommer 2023«, in: Machine Against the Rage, Nr. 4, Herbst 2023, online hier.
- Siehe Andrew M. Guess u.a., »How Do Social Media Feed Algorithms Affect Attitudes and Behavior in an Election Campaign?«, in: Science, Nr. 6656, Jg. 381 (2023), S. 398–404, online hier.
- Siehe Nick Clegg, »Groundbreaking Studies Could Help Answer the Thorniest Questions About Social Media and Democracy« auf: Meta, 27. Juli 2023, online hier.
- Siehe Chhandak Bagchi u.a, »Social Media Algorithms Can Curb Misinformation, But Do They?«, in: Science, E-Letter vom 26. Sept. 2024, online hier.
- Siehe Piotr Heller, »Wie Online-Konzerne Wissenschaftler austricksen könnten«, in: FAZ, 28. Sept. 2024, online hier.
- Siehe H. Holden Thorp & Valda Vinson, »Context Matters in Social Media«, in: Science, Nr. 6716, Jg. 385 (2024), online hier.
- In der Bundesnetzagentur wurde die nationale, zentrale Koordinierungsstelle für die Umsetzung des DSA in Deutschland eingerichtet. Sie überwacht die Umsetzung der neuen DSA-Regeln. Zu ihren Aufgaben gehören neben der Akkreditierung von Trusted Flaggern beispielsweise auch die Beantragung von Datenzugriffen bei Verstößen oder die Anordnung von Inspektionen.
- Siehe dazu Artikel 22 der EU-Verordnung 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Okt. 2022, online abrufbar hier.
- Siehe Fatina Keilani, »Trusted Flagger durchsuchen das Internet im Auftrag der Bundesregierung nach unliebsamen Meinungen«, in: NZZ, 8. Okt. 2024, online hier.
- Siehe Pressemitteilung der Bundesnetzagentur, 1. Okt. 2024, online hier.
- Für diese Argumentation siehe @ZappMM | 21:06 | 14. Okt. 2024 oder auch Martin Fehrensen & Simon Hurtz, »Trusted Flaggers: Warum die Zensurvorwürfe absurd sind«, auf: Social Media Watchblog, 15. Okt. 2024, online hier.
- Siehe Ingo Dachwitz, »Der ›Kommissar der Konzerne‹ dankt ab und teilt auf X gegen Ursula von der Leyen aus«, auf: Netzpolitik, 16. Sept. 2024, online hier.
- Siehe Bryan Harris, »Brazil’s X Ban Stokes Backlash against Supreme Court«, in: Financial Times, 1. Sept. 2024, online hier.
- Siehe Anne Herrberg, »Sperrung von X in Brasilien bestätigt«, auf: Tagesschau, 2. Sept. 2024, online hier.
- Siehe @elonmusk | 17:45 | 2. Sept. 2024; sowie @elonmusk | 02:03 | 30. Aug. 2024.
- Siehe @bsky.app | 23:21 | 31. Aug. 2024; sowie Frank Schräer, »Twitter-Konkurrent Bluesky profitiert von X-Sperrung in Brasilien«, auf: Heise, 2. Sept. 2024, online hier.
- Siehe Gabriela Sá Pessoa & Barbara Ortutay, »Musk’s X to Be Reinstated in Brazil after Complying with Supreme Court Demands«, auf: APNews, 9. Okt. 2024, online hier.
- Siehe Seite der User-Rights online hier.
- Siehe Anna Biselli, »Viele Wege führen zu einer Beschwerde«, auf: Netzpolitik, 26. Aug. 2024, online hier.
- Siehe Thomas H. Costello, Gordon Pennycook & David G. Rand, »Durably Reducing Conspiracy Beliefs through Dialogues with AI«, in: Science, Nr. 6714, Jg. 385 (2024), online hier.
- Siehe dazu die Einschätzung von Stefan Feuerriegel u.a., »KI senkt Zustimmung zu Verschwörungstheorien«, auf: ScienceMediaCenter, 12. Sept. 2024, online hier.
- Siehe Matthias J. Becker u.a. (Hg.), Decoding Antisemitism. A Guide to Identifying Antisemitism Online« (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2024).
- Siehe Heidi Vandebosch & Tobias Rothmund, »Online Hate. A European Communication Perspective«, in: Communications, Nr. 3, Jg. 49 (2024), S. 371–377.
- Siehe Franziska Oehmer-Pedrazzi & Stefano Pedrazzi, »An Image Hurts More than 1000 Words?«, in: Communications, Nr. 3, Jg. 49 (2024), S. 421–443.
- Siehe Thomas Kirchmair, Kevin Koban & Jörg Matthes, »Four Eyes, Two Truths. Explaining Heterogeneity in Perceived Severity of Digital Hate against Immigrants«, in: Communications, Nr. 3, Jg. 49 (2024), S. 468–490.
- Siehe Tanja Marie Hansen u.a., »Combatting Online Hate. Crowd Moderation and the Public Goods Problem«, in: Communications, Nr. 3, Jg. 49 (2024), S. 444–467.