Maßnahmen gegen Hass im Netz: Das Wichtigste aus dem Frühjahr 2024
Aktuelle, kommentierte Ereignisse im Kampf gegen digitalen Hass und ausgewählte Publikationen zum Thema. Diesmal im Rückblick auf das letzte Halbjahr: #reclaimtiktok im Europawahlkampf +++ Gründung des Center for User Rights +++ Bürgerrat gegen Fakes +++ Likes auf X nicht mehr einsehbar +++ Bluesky jetzt offen für alle +++ OpenAI launcht Text-to-Video-KI +++ Digitale-Dienste-Gesetz tritt in Kraft +++ Schleppender Datenzugang für Forschung +++ AI Act benötigt Aufsichtsbehörde +++ Neue Studien zur Verbreitung von Desinformationen, Effektivität von Content Warnings und zum Wandel des rechtsextremen Framings im Klimadiskurs.
Es dürfte kein Geheimnis sein, dass ausländische Tech-Konzerne von besonderem geostrategischem Interesse sind und aus sicherheitspolitischer Sicht als sehr relevant eingestuft werden. Deutlich zeigt sich dies im globalen Wettstreit zwischen den USA und China. Während die Kommunistische Partei Chinas seit mehr als einem Jahrzehnt US-Angebote von Google, Meta etc. mit einer Firewall abschirmt, wird der Einfluss chinesischer Technologie nun auch in westlichen Industrienationen zunehmend kritisch diskutiert.1 Wiederkehrend spielt hier TikTok eine zentrale Rolle. Die App stand zuletzt wegen ihres Suchtpotenzials und unzureichendem Jugendschutz in der Kritik.2 Zudem wird behauptet, sie habe sich im Kontext des Gaza-Kriegs zu einer »Radikalisierungsmaschine« entwickelt und sei ein Grund für den Erfolg der AfD bei Jugendlichen.3 Problematisch sei auch, inwieweit die App Zugriff auf Nutzer*innendaten habe.4 Das ist insofern von Relevanz, als das beliebte Portal dem chinesischen Konzern ByteDance gehört – noch.
Inzwischen läuft nämlich auf Geheiß des US-Kongress und mit Siegel von Präsident Joe Biden eine gesetzliche Frist,5 die das Unternehmen vor eine drastische Entscheidung stellt: Entweder veräußere ByteDance seine US-Anteile an ein westliches Unternehmen – im Gespräch sind Großkonzerne wie Microsoft und Oracle, aber auch private Investoren – oder TikTok würde binnen 270 Tagen in den USA blockiert; Provider wären dann rechtlich dazu verpflichtet, die App nicht mehr bereitzustellen.6 Bisher waren solche Ansinnen in den USA allerdings gescheitert. So hatte Donald Trump bereits kurz vor Ende seiner Amtszeit per Dekret versucht, ein TikTok-Verbot in den USA durchzusetzen. Nach Bidens Amtsantritt wurde es mit Verweis auf eine sorgfältige Prüfung wieder aufgehoben. Mittlerweile scheint sich Trumps Position geändert zu haben.7 So gab er in einem Interview zu verstehen, dass er im Falle seiner Wiederwahl TikTok niemals verbieten würde.8 Im Übrigen ist in der chinesischen Volksrepublik selbst die App nicht verfügbar. Dort bietet ByteDance unter dem Namen Douyin eine entsprechende Alternative an.9
Den Vorwurf, dass TikTok möglicherweise zur Spionage genutzt werde, weist das Unternehmen jedenfalls von sich. Angeführt wird dabei, dass sich dieses zu 60 Prozent in der Hand westlicher Investoren befinde.10 Kritiker*innen entgegnen jedoch, dass der chinesische Gründer ein höheres Stimmrecht habe und sich ByteDance trotz Sitz auf den Cayman Islands nicht der KP in China widersetzen könne.11 Das lässt die Plattform wiederum nicht gelten und klagt gegen das Gesetz.12 Sie setzt dabei auch auf – nach eigenen Angaben – die 170 Millionen User*innen in den USA, die über die App eine direkte Möglichkeit zur Beschwerde bei ihren Wahlkreisabgeordneten erhielten.13 Auch unter Creator*innen macht sich Unmut breit. Sie sehen nicht nur ihre Existenz bedroht, sondern bekräftigen in einem offenen Brief, dass TikTok gerade in einem Wahljahr für die politische Bildung relevant sei.14 Auch abseits des Briefes wird argumentiert, ein Verbot sei ein Eingriff in die Rede- und Meinungsfreiheit.15 Insgesamt wirft die Debatte, die auch hierzulande schon andiskutiert wurde,16 wichtige Fragen für Zivilgesellschaft, Politik und Forschung auf.
Zitationsvorschlag: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Maßnahmen gegen Hass im Netz: Das Wichtigste aus dem Herbst 2023 und Frühling 2024«, in: Machine Against the Rage, Nr. 6, Sommer 2024, DOI: 10.58668/matr/06.4.
Verantwortlich: Wyn Brodersen, Lena-Maria Böswald, Maik Fielitz, Holger Marcks.
- Siehe Götz Hamann, »Entscheidung im US-Kongress: Das TikTok-Ultimatum ist traurig, aber konsequent«, in: Zeit, 21. Apr 2024, online hier. Auch hierzulande gibt es derlei Debatten, wie etwa jüngst um die Beteiligung von Huawei am Ausbau des 5G-Netzes; siehe Moritz Koch u.a., »Huawei: Spitzentreffen zu deutscher 5G-Sicherheit am Donnerstag«, in: Handelsblatt, 21. Mai 2024, online hier.
- Siehe Eike Kühl, »Was ist TikTok Lite – und macht es süchtig«, in: Zeit, 23. Apr. 2024, online hier. Siehe dazu auch die Fachdiskussion des Science Media Center, online hier; sowie Bernd Riegert, »EU prüft: Jugendschutz bei TikTok mangelhaft«, auf: Deutsche Welle, 20. Feb. 2024, online hier.
- Siehe Jan Michael Marchart & Jonas Vogt, »Social Media: Tiktok ist rund um den Krieg in Nahost eine gefährliche Radikalisierungsmaschine«, in: Der Standard, 4. Nov. 2023, online hier; sowie Farangies Ghafoor, »Wählen junge Menschen rechts wegen TikTok?«, in: Tagesspiegel, 11. Jun. 2024, online hier.
- Siehe Dietmar Neuerer, »Deutsche Politiker fordern schärferes Vorgehen gegen Tiktok«, in: Handelsblatt, 21. Mär. 2024, online hier.
- Siehe den »Protecting Americans from Foreign Adversary Controlled Applications Act« (H.R.7521), verabschiedet am 13. März 2024, zu finden auf: U.S. Congress Legislation, online hier.
- Siehe Simon Hurtz & Sebastian Wellendorf, »Verkauf oder Verbot? Machtkampf zwischen US-Politik und TikTok«, auf: Deutschlandfunk, 25. Apr. 2024, online hier; sowie Roland Lindner, »Video-App: Milliardär will Tiktok kaufen«, in: FAZ, 15. Mai 2024, online hier.
- Siehe Alena Kammer, »Regierung hebt Trump-Sanktionen gegen TikTok und WeChat auf«, in: Zeit, 10. Juni 2021, online hier.
- Siehe Diana Glebova, »Trump Vows to ›Never Ban TikTok‹ in Strongest Statement Yet on Chinese-Owned Social Media Giant«, in: New York Post, 7. Juni 2024, online hier.
- Siehe Claire Fu & Daisuke Wakabayashi, »There Is No TikTok in China, But There Is Douyin. Here’s What It Is«, in: New York Times, 25. Apr. 2024, online hier.
- Siehe »Drohendes Verbot in den USA. TikTok ruft eigene Nutzer zum Protest auf«, in: Tagesschau, 8. März 2024, online hier.
- Siehe »Drohendes Verbot: Tiktok zieht vor Gericht gegen US-Gesetz zum Eigentümerwechsel«, in: FAZ, 8. Mai 2024, online hier.
- Siehe Eric Voigt, »TikTok und ByteDance klagen gegen US-Gesetz zum Zwangsverkauf«, in: Zeit, 7. Mai 2024, online hier.
- Siehe »Ansturm auf Abgeordnete: TikTok ruft US-Nutzer zu Protest gegen drohendes Verbot auf«, in: Spiegel, 8. März 2024, online hier.
- Siehe online hier,
- Siehe Bernd Müller, »TikTok-Verbot: Biden unterzeichnet Gesetz und löst Debatte um Meinungsfreiheit aus«, auf: Telepolis, 25. Apr. 2024, online hier.
- Siehe Andreas Herteux, »TikTok-Verbot in den USA? Warum auch für Deutschland sehr viel auf dem Spiel steht«, in: Focus, 3. Apr. 2024 ,online hier.
- Besonders eindrücklich zeigt dies der Film Reclaim – Der Kampf um die Demokratie auf TikTok (2024), online hier.
- Siehe Center for User Rights, »Online-Plattformen: Bei Problemen keine Antwort«, auf: Gesellschaft für Freiheitsrechte, online hier.
- Siehe online hier.
- Siehe Lukas Bernhard u.a., Verunsicherte Öffentlichkeit. Superwahljahr 2024: Sorgen in Deutschland und den USA wegen Desinformationen, hgg. v. Bertelsmann Stiftung, Februar 2024, online abrufbar hier.
- Siehe online hier.
- Siehe Eva Murašov u.a., »Trotz Entschuldigung für Likes von antisemitischen Tweets: CDU Berlin fordert Rücktritt der TU-Präsidentin«, in: Tagesspiegel, 30. Mai 2024, online hier.
- @XEng | 11. Juni 2024 | 23:01.
- Siehe Kylie Robison, »X Is About to Start Hiding All Likes«, auf: The Verge, 11. Juni 2024, online hier.
- Siehe Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz«, »Maßnahmen gegen Hass im Netz: Das Wichtigste aus dem Sommer 2023«, in: Machine Against the Rage, Nr. 4 (2023), online hier.
- Siehe The Bluesky Team, »Join Bluesky Today (Bye, Invites!)«, auf: bsky.social, 6. Feb. 2024, online hier.
- Hierbei handelt es sich um einen vom Journalisten Cory Doctorow geprägten Begriff, der den schleichenden Zerfall einer Plattform beschreiben soll. Doctorow postuliert damit einen idealtypischen Lebenszyklus einer Plattform, in dem diese zunächst das Interesse der User*innen in den Vordergrund stellt, die User Experience aber sukzessive zugunsten monetärer Interessen vernachlässigt werden muss. Irgendwann kippt das Konstrukt, da auch die Werbetreibenden unzufrieden werden und die Plattform schließlich langsam zu sterben beginnt.
- Siehe Kate Knibbs, »Bluesky CEO Jay Graber Says She Won’t ›Enshittify the Network With Ads‹«, auf: Wired, 9. Feb. 2024, online hier.
- Siehe Martin Holland, »Kurznachrichtendienst: Jack Dorsey kehrt Bluesky den Rücken«, auf: Heise, 6. Mai 2024, online hier.
- Siehe Simon Hurtz, »Sora von Open AI. Das nächste große Ding nach ChatGPT«, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Feb. 2024, online hier.
- Siehe Christian Schiffer, »OpenAI stellt GPT-4o vor. Es sieht, es spricht, es singt«, auf: Bayerischer Rundfunk, 14. Mai 2024, online hier.
- Siehe Michael Meyer-Resende u.a., »Are Chatbots Misinforming Us About the European Elections? Yes«, auf: Democracy Reporting International, 11. Apr. 2024, online hier.
- Siehe »Dispruting Deceptive Uses of AI by Covert Influence Operations«, auf: OpenAI, 30. Mai 2024, online hier.
- Siehe »Digital Services Coordinator«, auf: Bundesnetzagentur, o.D., online hier.
- Siehe Lena-Maria Böswald, »Guide to #DSA Teil 2: Wie zivilgesellschaftliche Organisationen den Digital Services Act nutzen können«, auf: Das NETTZ, 27. Juni 2024, online hier.
- Siehe dazu die Mitteilung des Deutschen Bundestags, online hier.
- Siehe die KIdD-Seite online hier.
- Siehe Europäische Kommission, »Commission Sends Preliminary Findings to X for Breach of the Digital Services Act«, Pressemitteilung vom 12. Juli 2024, auf: Europäische Kommission, online hier.
- Siehe die Mitteilung von CrowdTangle online hier.
- Die EU-Kommission hat u.a. ein Verfahren eingeleitet, da vermutet wird, dass ein Einfrieren von CrowdTangle als Instrument zum Echtzeitmonitoring im Superwahljahr nicht gerade dazu beiträgt, systemische Risiken auf den Plattformen abzumildern.
- Siehe »Open Letter To Meta«, auf: Mozilla Foundation, online hier; sowie Siehe Mozilla, »Don’t Be Fooled by Meta’s Transparency Display: Election Integrity Risks Remain«, auf: Mozilla Foundation, 4. Juni 2024, online hier.
- Siehe Lukas Seiling, Ulrike Klinger & Jakob Ohme, »DSA40 Data Access Tracker«, auf: soscisurvey.de, o.D., online hier.
- Siehe Eliza Gkritsi, »Inside the EU Commission’s Rush to Build Codes of Practice for General Purpose AI«, auf: Euractiv, 2. Juli 2024, online hier.
- Siehe Sahar Baribi-Bartov u.a., »Supersharers of Fake News on Twitter«, in: Science, Nr. 6699, Jg. 384 (2024), S. 979–982.
- Siehe Kai Kupferschmidt, »Tiny Number of ›Supersharers‹ Spread the Vast Majority of Fake News«, auf: Science, 30. Mai 2024, online hier.
- Siehe Curd Knüpfer & Matthias Hoffmann, »Countering the ›Climate Cult‹. Framing Cascades in Far-Right Digital Networks«, in: Political Communication, 2024, online abrufbar hier.
- Siehe Center for Countering Digital Hate, »The New Climate Denial. How Social Media Platforms and Content Producers Profit by Spreading New Forms of Climate Denial«, Januar 2024, online abrufbar hier.
- Siehe Klara Austeja Buczel u.a., »How Do Forewarnings and Post-Warnings Affect Misinformation Reliance? The Impact of Warnings on the Continued Influence Effect and Belief Regression«, in: Memory & Cognition, 2024, online abrufbar hier.